Meine Homepage ist Franco Basaglia gewidmet  - bis heute einer der schärfsten Analytiker der Situation der Ausgeschlossenen

Franco Basaglia[1]

Franco Basaglia, 1924 in Venedig geboren, starb am 29. 8.1980 an einem Hirntumor. Wie kaum ein anderer steht er für den Kampf für die Vermenschlichung der Psychiatrie, d.h. für ihre Auflösung. Die «Demokratische Psychiatrie« Italiens, die im Gesetz Nr. 180 vom 13. 5.1978 und Nr. 833 vom 23.12. 1978 die Möglichkeit der Auflösung der Großanstalten auch gesetzlich durchgesetzt hat, verliert in ihm ihren prominentesten Vertreter. Die von 1961 bis 1971 von Basaglia geleitete Psychiatrische Klinik in Gorizia war der sichtbare Ausgangspunkt einer Verweigerung gegenüber der traditionellen Rolle der Psychiatrie als Institution der Gewalt, als Institution, die die Kranken ihrer Geschicht-

 (204)

lichkeit beraubt, die sie als außerhalb der Norm stehend negiert, indem sie sie zwingt, »sich der Geschichtlichkeit der Institution anzuschließen«« (Die negierte Institution, 1973, S. 166). Die Geschichtlichkeit der Institutionen ist die der Gewalt »der einen, die das Messer am Griff halten, über die anderen, die ihnen ein für allemal unterlegen sind« (ebd., S. 124), die Irrenärzte zu Folterern ausbildet (Psychologie heute 1977, H. 12, S. 25) und die durch technische Akte der Verwaltung, Klassifizierung und Unterdrückung Kranke zu jenen »Anstaltsartefakten« macht, die die psychiatrische Ideologie als Ausdruck des krankhaften Prozesses vorgibt. Der Zustand des Zerfalls des Patienten, »seiner Verdinglichung«, seiner totalen Vernichtung ist alles andere als bloßer Ausdruck eines pathologischen Zustandes: Er ist nur das Resultat der systematischen Zerstörung durch eine Institution, die die Funktion hat, die Gesunden vor den Irren zu schützen ... Primär ist er nicht ein Kranker, sondern ein Mensch ohne Verhandlungsstärke, ohne sozio-ökonomischen Standort" (Die negierte Institution, S. 138). Von hier aus beginnt Basaglia die Geschichtlichkeit der Ausgeschlossenen zu denken: als im Interesse der herrschenden Klasse, des bürgerlich-kapitalistischen Staates und seiner Ökonomie, beseitigte, ihrer Geschichte beraubte Individuen, und als in dieser Lage mit den noch möglichen Mitteln - z. B. der Aggression, der Regression und der totalen Hospitalisierung - um ihr Leben kämpfende Menschen. So versteht sich der Ausgangspunkt:

»Wenn tatsächlich der Kranke die einzige Realität ist, auf die wir uns zu beziehen haben, dann müssen wir uns eben gerade mit den beiden Seiten dieser Realität befassen: mit der, daß er ein Kranker mit einer (dialektischen und ideologischen) psychopathologischen Problematik ist, und mit der anderen, daß er ein Ausgeschlossener ist, ein gesellschaftlich Gebrandmarkter. Eine Gemeinschaft, die therapeutisch sein will, muß sich diese doppelte Realität - Krankheit und Brandmarkung - vor Augen halten, um nach und nach die Gestalt des Kranken so rekonstruieren zu können, wie sie gewesen sein mußte, bevor die Gesellschaft mit ihren zahlreichen Schritten der Ausschließung und der von ihr erfundenen Anstalt mit ihrer negativen Gewalt auf ihn einwirkte« (Was ist Psychiatrie, 1974, S. 15).

Nur wenn dieser Ausgangspunkt begriffen ist, wird die scheinbare Widersprüchlichkeit Franco Basaglias begreifbar und auflösbar: Der Widerspruch, Therapie als Methode der Gewalt abzulehnen und trotzdem therapeutisch tätig zu sein; der Widerspruch, am radikalsten die Bedingungen der Aufhebung der Entmenschlichung der psychisch Kranken zu formulieren und trotzdem sich der »mehr pragmatischen« Richtung in der demokratischen Psychiatrie anzuschließen und nicht dem »an der Durchsetzung radikaler Prinzipien orientierten Flügel« (Bopp, 1980, S. 17).

Basaglia hat im Gegensatz zu vielen verbal scheinbar Radikaleren niemals die Kompliziertheit der Gewaltverhältnisse und Klassenverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft übersehen, jenes Systems von »Schützengräben und Kasematten« (Gramsci), hinter dem sich der bürgerliche Staat verschanzt. Entsprechend war er, obwohl »Aristokrat« und »bürgerlicher Intellektueller« (so sein Freund Giacanelli) seiner Herkunft nach, aufs Engste dem Kampf der KPI verbunden, für die er z. T. auch im Wahlkampf aufgetreten ist.

(205)

In diesem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis nahm er prinzipiell den Standpunkt der psychisch Kranken ein, deren Geschichte er dialektisch nach zu denken versuchte, um ihre Geschichtsfähigkeit wiederherzustellen. Dies bedeutete, jeder neuen Klassifikation der Patienten, die anstelle der alten psychiatrischen trat (so z. B. auch die sozialpsychiatrische anstelle der klassisch nosologischen, dann die Kategorisierung der Psychoanalyse usw.), zutiefst mißtrauisch gegenüberzustehen, da sie als Klassifikation prinzipiell die Definition des Ausschlusses, des Gewaltverhältnisses in sich enthält. Von hier aus erklärt sich, daß Basaglia, obwohl therapeutisch tätig und ein hervorragender Psychotherapeut, sich so radikal gegen Therapie ausspricht.

Genau dies war der Gegenstand einer langen und hitzigen Debatte, die ich im April 1978 in Triest mit ihm u. a. über das Problem menschlicher Bedürfnisse hatte. Ob ich ihm sagen könne, was Bedürfnisse eines Individuums seien? Und erst die Diskussion um ein prinzipiell historisches und dialektisches Herangehen an diese Kategorie wie an jede andere der Psychologie ergab dann hinter dem brillanten Dialektiker Basaglia den Psychologen und Psychotherapeuten, der sehr wohl Vorstellungen über Aufbau und Wiederaufbau von Geschichtsfähigkeit der Individuen hatte und in keiner Weise auf therapeutisches Denken verzichtete: allerdings prinzipiell parteilich von der historischen Logik der psychisch Kranken her, und aus dieser Logik heraus um den möglichen Mißbrauch jeder vorgegebenen Etikettierung wissend.

Es ist bewundernswert, daß Franco Basaglia diesen Standpunkt, dessen äußere Seite der permanente Angriff, das permanente Infragestellen, das Austragen der Widersprüche ist, sein Leben lang hindurch entfaltet und durchgehalten hat. Hier, und nicht in der vordergründigen Auflösung der Institutionen, liegt sein Vermächtnis: historisch-dialektisch vom Standpunkt der Ausgeschlossenen, in jedem Schritt, der aus der Geschichtslosigkeit herausführt, zugleich sich neuer Etikettierung und neuem Ausschluß zu verwehren; einen permanenten Kampf, der nur im Bündnis mit und im Kampf in den Organisationen der Arbeiterklasse möglich ist und dessen Widersprüche - d.h. zugleich den Standpunkt der Ausgeschlossenen einzunehmen und sich andererseits selbst als Teil der Organisation des ausschließenden Apparates begreifen zu müssen - erst mit der Auflösung des Ausschlusses in einer menschlichen Gesellschaft aufgelöst sind, nicht von sich zu weisen, sondern aushalten zu können.

Wolfgang Jantzen

Literatur

P. Basaglia: Was ist Psychiatrie? Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1974

F. Basaglia: Die negierte Institution. Frankfurt: Suhrkamp, 1973

Bopp, J.: Vorkämpfer für die «geschlossene« Anstalt. In: Psychologie heute 1960, H. 1, |

S.14-17

(206)



[1] Wolfgang Jantzen: Zum Tod von Franco Basaglia, Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie 1 (1981) 204-206