Antwort an Anke und zugleich offener Brief an die StudentInnen der Rehawissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin:

 

Liebe Anke,

Du schreibst in Deiner E-Mail, die mich heute , am 7. 5. 2003 erreicht hat, u.a. folgendes:

 

„Du bist mir heute übrigens an der Uni begegnet in einem Seminar, in dem es um Paradigmen der Sonderpädagogik ging und leider bist Du mal wieder nicht zitiert worden, sondern nur über Herrn Bleidick (zudem aus einen Buch, was aus der Zeit Ende der 80 er Jahre war. Das hat mich geärgert und ich habe für Dich oder besser für die Auffassung Partei begriffen. Die Ausrede der StudentInnen war, Du seiest so schwer zu lesen, deswegen nicht das Original, sondern Herr Bleidick. Da fiel mir dann auch nichts mehr darauf ein. An den Punkten wünsch ich mich dann immer zurück nach Bremen und beneide deine Studenten.“

 

Was soll ich zur Haltung der StudentInnen sagen?.

Zunächst einmal: Warum sind sie an der Uni? Die Uni ist ein Platz für die Praxis der Reflexion; wer ein Handwerk lernen will, muss an die Fachschulen gehen. Auch die Fachhochschulen sehen das genauso und verlangen zusätzlich zu stärkerer Praxisausbildung fundierte wissenschaftliche Reflexion. Das zum einen.

Zum anderen Adorno in seinem Aufsatz Philosophie und Lehrer (Quelle: ders. „Eingriffe.“ Ffm.1963):

„Herein spielt jene schmähliche, nicht nur in Deutschland verbreitete Missachtung des Lehrerberufs, die dann wieder die Kandidaten dazu bewegt, allzu bescheiden Ansprüche an sich zu stellen. Viele haben in Wirklichkeit resigniert, ehe sie auch nur anfangen, und sind sich selbst so wenig gut wie dem Geist.“ (S. 47)

Und: „Dem verdinglichten Bewusstsein ist eigentümlich, sich in sich selbst einzurichten, bei sich selbst, bei der eigenen Schwäche zu beharren und sich um jeden Preis ins Recht zu setzen. Immer wieder staune ich über den Scharfsinn, welche noch die Stumpfesten aufbringen, wenn es gilt, schlechtes zu verteidigen“ (S. 51).

Ich will nicht in Frage stellen, dass viele meiner Texte schwierig sind, weil die Sache schwierig ist. Warum sollte ich mich sonst so quälen?

Aber warum lesen die StudentInnen dann nicht einen Text wie „Nelly“ oder das Interview von Georg Feuser mit mir, statt Bleidick über Jantzen. (beides auf meiner Homepage zugänglich: http://basaglia.bei.t-online.de). Das ist ungefähr dasselbe, als wenn man Nolte über Habermas liest, Angela Merkel über Gregor Gysi hört oder als ob ein Richter nur bereit ist das Plädoyer des Anklägers zu hören ansonsten aber den Verteidiger von der Verhandlung ausschließt. Welche Gesinnung damit bedient wird, kann man gut bei Hannah Arendt „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ nachlesen.

Wissenschaftliche Redlichkeit verlangt die Originaltexte aller Seiten zu lesen: von Karl Marx ebenso wie von Karl Schmidt oder Max Weber, von Bleidick ebenso wie von Speck, Kobi, Haeberlin oder Jantzen, die Amerikaner ebenso wie die Russen und selbst zu denken. Wer das nicht tut, hat a) an der Uni nichts verloren und drückt b) speziell im Fach Behindertenpädagogik seine tiefe Missachtung gegenüber dem Fach Behindertenpädagogik sowie gegenüber behinderten Menschen aus, die er oder sie meint, mit Billigrezepten reparieren zu können oder aber – welche Hybris, die Psychoanalytiker brauchen dafür eine lange und schwierige Ausbildung! –  ihnen durch „Beziehungsarbeit“ unmittelbar helfen zu können. Zudem bringen StudentInnen das Fach in eine Stellung, die in vollem Umfang das bedient, was Martin Hahn bei seinem Amtsantritt in Berlin vorfand:

Martin Hahn, damals neuberufener Professor für Geistigbehindertenpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin, nennt in der Vorstellungsrunde aller Neuberufenen beim Senator für Wissenschaft und Bildung seine Lehrstuhlbezeichnung. Ein Teil der Hochschullehrer/innen bricht in schallendes Gelächter aus. „Geistige Behinderung und Universität – das kann doch nicht wahr sein. Der Heiterkeitsausbruch ist auf einen Überraschungseffekt zurückzuführen, der gute Witze auszeichnet: Etwas Unerwartet-Absurdes wird plötzlich wahrgenommen. – Unerwartet-absurd, weil vorausgegangene Wahrnehmungen und Erfahrungen der universitären Wirklichkeit die Geistigbehindertenpädagogik nicht enthielten und weil geistige Behinderung als nicht zu vereinbarender Gegensatz zu dem hohen intellektuellen Niveau einer Universität gesehen wird.“ (Hahn im Editorial der „Zeitschrift Geistige Behinderung“ 1995, H. 4, S. 273-274)

Blochs Bemerkung anlässlich seiner Rekonstruktion der Feuerbachthesen von Marx (Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Ffm. 1985, S. 316) – passend zu dem immer noch real existierenden Eingangsmotto im Hauptgebäude der Humboldtuniversität [1]- artikuliert das Grundproblem unseres Faches, wie man/frau es nicht besser sagen kann.

„Aber Liebesgefühl, das selber nicht von Erkenntnis erleuchtet ist, versperrt gerade die helfende Tat, zu der es sich doch aufmachen möchte.“

Bezogen auf dieses Liebesgefühl, das fundamental ist für unser Fach und das ich den StudentInnen der HU-Berlin in keiner Weise bestreiten, zu dem ich sie sogar ermutigen will, bin ich solidarisch mit ihnen; in scharfem Gegensatz aber bin ich zu ihrer Verweigerung von Erkenntnis, die ich für unverantwortlich halte.

Insofern gestatte ich mir, diesen Widerspruch als offenen Brief zu artikulieren und meine Antwort an Dich – Dein Einverständnis vorausgesetzt – auf meiner Homepage ins Netz zu stellen.

Herzliche Grüße

Wolfgang

 



[1] Für die Nicht-Berliner, die diesen Text lesen. Dort steht die elfte These über Feuerbach von Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur  verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.