Vygotskij und das Problem der elementaren Einheit der psychischen Prozesse

 

Wolfgang Jantzen

 

Wer die »Zelle der Psychologie«, den Mechanismus einer Reaktion, zu enträtseln vermag, der hat den Schlüssel zur gesamten Psychologie gefunden.

(Vygotskij 1985, S. 233)

 

Wie die Forschung zeigt, werden wir nie den wirklichen Charakter der Entwicklung des Denkens und der kindlichen Affekte verstehen können, wenn wir nicht den Umstand beachten, daß im Laufe der Entwicklung sich weniger die Eigenschaften und der Aufbau von Intellekt und Affekt, als vielmehr die Verbindungen zwischen ihnen ändern.

(Vygotskij 2001b, S. 28)

 

 

1. Einleitung

Soweit wir den bis heute vorliegenden Periodisierungen des Werks von Vygotskij Glauben schenken dürfen, kann eine frühe Phase (Gebrauch reflektologischer Termini) von einer mittleren (Entfaltung der kulturhistorischen Theorie) und einer späten Phase (Hinwendung zur klinischen Psychologie) unterschieden werden (van der Veer und Valsiner 1991). Wie in jedem Werk eines Wissenschaftlers ist auch in dem von Vygotskij selbst eine Entwicklungsdimension zwischen Frühwerk und Spätwerk aufspürbar, allerdings nicht in der genannten, oberflächlichen Form. Da meines Erachtens gerade das uns jetzt nach und nach in Übersetzungen zugängliche Spätwerk einen wahren Schatz an psychologischen und pädagogischen Einsichten birgt, möchte ich hier an einigen zentralen Aspekten eine tiefergehende Rekonstruktion versuchen.

Ich verstehe die mittlere Etappe als Ort neuer Fragestellungen und der Begründung eines eigenständigen Forschungsprogrammes, das dann im Spätwerk (ab 1930) seine Entfaltung erfährt. Schlüssel für diese Interpretation ist in einer Marx verpflichteten Methodologie die Tatsache, daß das bereits Entfaltete ein neues Licht auf die vorangehenden Entwicklungsprozesse wirft (Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen; Marx 1983, S. 39[1]). So ermöglichen es die Spätschriften u.a. auch den nachgelassenen Systementwurf Konkrete Psychologie des Menschen von 1929 (Vygotskij 1989) völlig neu zu lesen. Um dies aufzuzeigen, beginne ich jedoch früher und erörtere zunächst die für das frühe Werk zentrale Schrift von 1925 Das Bewußtsein als Problem einer Psychologie des Verhaltens (Vygotskij 1985a)

2. Das Problem der menschlichen Erfahrung als verdoppelte Erfahrung

Vygotskij, der insgesamt sehr sparsam mit vorangestellten Zitaten ist, zitiert zu Beginn dieser Arbeit (a.a.O., S. 279) jene Stelle aus dem Kapital von Karl Marx, innerhalb derer die Operationen von Spinnen und Bienen mit jenen des menschlichen Baumeisters verglichen werden. Deren Kern machen die beiden Sätze aus: Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Beine auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. (Marx 1970, S. 193).

Im Gegensatz zur Reflexologie sind, so Vygotskij, nicht die Reflexe sondern das Verhalten zu analysieren. Dessen spezifische menschliche Ausprägung gegenüber der tierischen Form des Verhaltens ist psychologisch zu bestimmen. Dies geschieht in verschiedenen Schritten des Aufsatzes. Das Verhalten der Tiere besteht zunächst aus zwei Arten von Reaktionen, unbedingten Reflexen und bedingten Reflexen (S. 287), so daß als Grundformel gilt: Das Verhalten des Tieres resultiert aus ererbter Erfahrung plus ererbter Erfahrung mal persönlicher Erfahrung (wegen der späteren Belegung des Begriffs Persönlichkeit als menschliche Persönlichkeit sprechen wir hier besser von individueller Erfahrung).

Transformiert in eine entsprechende Verhaltensgleichung ergibt sich:

(1)                               VT = ƒ [(Ee1 + Ee2) · Ei]

Zu klären bleibt, was die doppelte Nennung von ererbter Erfahrung in dieser Gleichung bedeutet. Vieles spricht dafür, daß damit erstens dominante Reaktionen im Sinne von Uchtomskij gemeint sind[2], also interne Übergänge des ZNS von Bedarf in Bedürfnisse, die in Einbezug der je gegebenen reflektorischen Struktur den Charakter von funktionellen Organen aufweisen. Insofern könnte Ee1, also die Dominante, für den Übergang körperlicher Prozesse in Weltprozesse und Ee2, also der bedingte Reflex, für den Übergang von Weltprozessen in körperliche Prozesse stehen. Entsprechend ist der unbedingte Reflex die ursprüngliche, widersprüchliche Einheit beider Aspekte und der Mechanismus des bedingten Reflexes (nach Pavlov ein Hirnmechanismus, nach Uchtomskij ein Organ! eines das von außen konstruiert wird) (Vygotskij 1929/1989; Hervorh. i. Orig.) realisiert diese widersprüchliche Einheit als Organ bereits auf höherem Niveau.

Unsere Formel verändert sich durch diese Präzisierung, da wir Ee1 nun mit dem Index k für körperbezogen, und Ee2 mit dem Index w für weltbezogen versehen können:

(2)                               VT = ƒ [(Eek + Eew) · Ei]

Da Vygotskij den Mechanismus der Dominante auf höheren Niveaus gleichbedeutend mit dem der Kompensation bzw. Überkompensation bei Adler behandelt (1927/2001a, S. 101), und er auch in Leont’evs Bemerkungen über die Bildung der willkürlichen Aufmerksamkeit durch äußere Mittler-Stimuli als Grundprozeß erwähnt wird, der über die sozial vermittelte Beherrschung es eigenen Verhaltens durch soziale Anreize in höheren Formen der Aufmerksamkeit aufgehoben wird (Leont’ev 1929/2001, S. 183 ff.)[3], spricht vieles dafür, daß hier ein Gedanke bereits im Fundament der Theorie vorhanden ist, der später in der Auseinandersetzung mit Lewin so formuliert wird: Bekanntlich sind die Hirnsysteme, die unmittelbar mit den affektiven Funktionen verbunden sind, besonders eigenartig eingerichtet. Sie öffnen und schließen das Gehirn, sie sind die zur gleichen Zeit aller niedrigsten, uralten, primären Systeme des Gehirns und die aller höchsten, spätesten, in ihrer Ausbildung nur dem Menschen eigenen (1934/2001b, S. 162). Dazwischen liegt die Zustimmung zu Freud in der Vorlesung von 1932, daß die Emotion von Anfang an nicht als solche besteht, sondern daß am Anfang vielmehr eine bestimmte Auseinandersetzung aus einem Kern gegensätzlicher Gefühle stattfindet (Vygotskij 1996a, S. 83). Der Ausgangspunkt zur Vermittlung höherer und niederer Ebenen in der Entwicklung der Affekte wird auch in den methodologischen Überlegungen der Konkreten Psychologie des Menschen unter Zurückgreifen auf das Konzept der Dominante bestimmt, worauf ich zurückkomme. Hier kam es mir darauf an, zu zeigen, daß dieses Thema in Form der zweifachen ererbten Erfahrung von Anfang an präsent ist.

Verfolgen wir in kürze den weiteren Weg der Argumentation von 1925:

Aus physiologischer Sicht ist das Verhalten (so in bezug auf Pavlov und Sherrington) das Resultat des Kampfes der Reflexe um das Bewegungsfeld (Vygotskij 1985a, S. 290) ein System der Reaktionen, die den Sieg davongetragen haben, ein kompliziertes Gleichgewicht, das unter Bedingungen großen Einstroms und kleinen Ausstroms aufrechterhalten wird. Durch die Fähigkeit des Körpers, Reiz für sich selbst zu sein (ebd., S. 294), durch den Aufbau eines propriozeptiven Feldes (Sherrington), eine vielfältigen Brechung der Reaktionen (Pavlov) (ebd., S. 295), entstehen Reflexe von Reflexen als Basis des Bewußtseins. Das Selbstbewußtsein kann es daher nur geben, weil es ein propriozeptives Feld und mit ihm verbundene sekundäre Reflexe gibt. Insofern ist die Selbstbeobachtung selbst eine innere (höhere reflektorische) Bewegung, die den Mitteln naturwissenschaftlicher Analyse zugänglich ist. (ebd., S. 297 ff.).

Bisher hat Vygotskij mit den physiologischen Mitteln seiner Zeit (Pavlov, Seˆhenov, Sherrington, Uchtomskij) – und keineswegs nur in Begrifflichkeiten der Reflexologie – die Bedingung der Möglichkeit eines sozial determinierten Bewußtseins entsprechend dem vorangestellten Marx-Zitat heraus gearbeitet.

Daraus folgert er, daß es vom Menschen geschaffene Reize sind, welche die in der Evolution neue Qualität des menschlichen Bewußtseins ausmachen und hebt insbesondere die Funktion der Sprache hervor. Insofern ist der Mechanismus der Selbsterkenntnis, dessen Bedingung der Möglichkeit über die Existenz des propriozeptiven Feldes gegeben ist, und der der Fremderkenntnis ein und derselbe, da beim Menschen beide in gleicher Weise sozial vermittelt sind. ›Ich erkenne mich nur soweit, wie ich für mich ein anderer bin und Das individuelle Moment  entsteht als abgeleitetes, sekundäres auf der Basis des sozialen und exakt nach seinem Muster. (ebd., S. 305) In die Verhaltensgleichung ist für den Menschen daher als neue Dimension historische und soziale Erfahrung einzutragen, die, da sie psychologisch dasselbe sind, als verdoppelte Erfahrung (Ed) betrachtet werden kann:

(3)                               VM = ƒ [(Eek + Eew) · Ei · Ed]

Es ist diese verdoppelte Erfahrung, die in den nächsten Jahren den Forschungsschwerpunkt von Vygotskij und seinen MitarbeiterInnen bildet. Was ist die Rolle der Kultur für die Entwicklung der höheren psychischen Funktionen und wie entwickelt sich deren instrumentelle Natur?[4] Aber auch wenn in dieser Zeit der Aspekt der Verdoppelung im Vordergrund steht, so reifen, insbesondere auch durch die durchgängig defektologische Arbeit[5] bedingt, eine Reihe weitere Fragen heran, deren Behandlung keineswegs nur in einem klinischen Spätwerk zu suchen ist.

3. Konkrete Psychologie des Menschen

Der beim ersten Lesen in vielen Passagen kryptisch erscheinende Text (eine Anhäufung von Stichworten, versehen mit Nachbemerkungen und Exkursen) zur Konkreten Psychologie des Menschen von 1929 erweist sich bei differenzierter Kenntnis des Spätwerkes als Schlüssel zu diesem, als sein Programmentwurf. Zum einen unterzieht er den bisherigen Weg einer deutlichen Korrektur, zum anderen entwirft er nächste Schritte, wie sie im Vortrag von 1930 über Die psychischen Systeme öffentlich als neues Forschungsprogramm thematisiert werden, zum dritten aber öffnet er den Rahmen für eine Forschung innerhalb derer die Zelle der Psychologie positiv bestimmt wird.

Auf die methdologische Weichenstellung im Manuskript Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung (Vygotskij 1927/1985b) gehe ich nicht näher ein, außer auf Vygotskijs zentralen Hinweis (vgl. Abschnitt 13), daß es eines eigenen psychologischen Materialismus bedarf, und daß es für diese allgemeine Theorie, dieses System vermittelter Begriffe, das auf dem Wege analytisch-induktiver Vorgehensweise und Auswertung bisheriger Theorien zu erreichen ist, einer Einheit in Form einer Keimzelle bedarf, die als unreduzierbare kleinste Einheit alle Elemente des Ganzen zu generieren vermag, vergleichbar dem Begriff der Ware[6] in Marxens Kapital.

Ich versuche im folgenden in Kürze einige Aspekte aus dem Manuskript von 1929 anzuskizzieren Vygotskij 1989).

Vorangestellt ist eine Nachbemerkung. Geschichte im Sinne eines historischen Herangehens an das Problem der menschlichen Psyche bedeutet (1) Geschichte im Sinne von Naturgeschichte (dialektischer Materialismus) und (2) Geschichte im Sinne von Geschichte der Menschen (historischer Materialismus), d. h. die höheren psychischen Funktionen sind (als natürliche) historischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Die Eigentümlichkeit der menschlichen Psyche (psychologischer Materialismus!) ist es, die erste und zweite Geschichte, Evolution und Historie, in sich zu vereinen. Methodologisch bedeutet dies ein System wechselseitiger Übergänge herauszuarbeiten, wie dies später in Vygotskijs Konzept der Zone der nächsten Entwicklung erfolgt. Diese Zone der nächsten Entwicklung verbindet psychische Prozesse (der in ihr Tätigen) und soziale Prozesse, die in ihr als kulturelle und historische Erfahrung von Anfang an, auf allen Entwicklungsniveaus präsent sind. Insofern ist, auf diesen Prozeß der Vermittlung bezogen, wie dann in den 30er Jahren von Vygotskij ausgearbeitet wird, die Wortbedeutung die vermittelnde Einheit, die Zelle des sozialen und individuellen Bewußtseins. Einerseits ist sie Einheit der Verallgemeinerung und des Verkehrs, andererseits ist sie Einheit von Denken und Sprechen (Vygotskij 1972, S. 13).

In dieser Funktion hat das Wort eine vergleichbare Stellung wie in Marxens Theorie die Ware und die Bedeutung tritt (als Individualform und Verkehrsform) in vergleichbarer Doppelform auf wie dort der Wert (Naturalform und Wertform). Genauer betrachtet ist dies jedoch eine Konfiguration engerer Art, da sie die Doppelform des Wertes bereits in Form der Einheit der Verallgemeinerung und des Verkehrs in sich trägt (die demnach in der Distribution die Naturalform des Verkehrs ausdrückt, dessen Wertform unsichtbar bleibt; vgl. die Analyse des Fetischcharakters der Waren, Marx 1970, Kap. 2). Diese Relation bleibt auch intrapsychisch im Wort als der Einheit von Denken und Sprechen erhalten (vgl. Vološinov 1975, Friedrich 1993), anderseits existiert jedoch eine Differenz zwischen der Allgemeinheit des Begriffs und dem Grad der Verallgemeinerung, auf den Vygotskij in Denken und Sprechen bei der Analyse der Zone der nächsten Entwicklung ausgiebig zu sprechen kommt.

Jeder Begriff ist das Resultat einer Verallgemeinerung des Kindes und zugleich Resultat eines sozialen Systems der Justierung von Begriffen gemäß ihren Graden und Beziehungen der Allgemeinheit (Vygotskij 1972, S. 262 ff). Der Zusammenhang der Dimensionen gibt den Schlüssel zur Lösung in die Hand Bedeutung haben ist dasselbe wie in bestimmten Beziehungen der Allgemeinheit zu anderen Begriffen stehen, d.h. sie bezeichnet ein spezifisches Maß an der Allgemeinheit (ebd., S. 269). Während die Bedeutung in Form der Allgemeinheit von außen nach innen, aus der Einheit von Verallgemeinerung und Verkehr im gesellschaftlich verwendeten Wort in die Einheit von Denken und Sprechen wächst, deren Träger das Wort ist, stützt sich jede neue Stufe in der Entwicklung der Verallgemeinerungen dabei auf die Verallgemeinerung der vorausgegangenen Stufen (ebd., S. 270, Hervorh. i. Orig.) Entsprechend formuliert Vygotskij das Konzept der Zone der nächsten Entwicklung hier auch als das Gesetz der in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Entwicklung analoger Systeme im höheren und niederen Bereich, das Gesetz des wechselseitigen Zusammenhangs des niederen und höheren Systems der Entwicklung, das Gesetz, das wir an der Entwicklung spontaner und wissenschaftlicher Begriffe [...] erhärtet haben. (ebd., S. 259 f.)

Was aber ist der Modus der niederen Ebene der spontanen Selbstbewegungen auf höheres Niveau, also in die Form einer Kultur, die den Hirnprozessen der jeweils sich entwickelnden Menschen entspricht und trotzdem von ihnen angeeignet werden muß? (vgl. 1934/2001b).

Schon vor dem Entwurf Konkrete Psychologie des Menschen hat Vygotskij (1928/1993) am Beispiel der Gebärdensprache von Gehörlosen hierzu eine Reihe von interessanten Folgerungen gezogen, die dazu führen, das Problem behinderter Kinder generell als kulturelles Problem zu betrachten. Zum einen ist Sprache nicht an den Lautapparat gebunden, zum zweiten haben gehörlose Menschen eine einzigartige Sprache kreiert (S. 168), indem sie auf die älteste Protosprache der Menschheit, die Gebärdensprache zurückgegriffen haben. Und auf dieser Basis folgert Vygotskij Left to himself, deprived from any education, a child sets off on the path of cultural development; in other words, in a child’s natural development and in his surrounding milieu, in his need to communicate with the environment, we find all the ingredients necessary for cultural development, which occurs, as it were, like combustion. (ebd., S. 169). Like combustion – wie durch Selbstzündung -, dies ist ein Gedanken in Spinozas Tradition der dynamischen Entwicklung der Welt und des Geistes in den jeweiligen Modi ihrer Existenz: Als Streben des belebten Körpers in der Welt, in seiner Existenz, in seiner Dauer und damit auch in seiner Tätigkeit zu verharren (Spinoza 1989). Diesen Antrieb nennt Spinoza allgemein Conatus (Streben) und bezogen auf den Menschen Appetitus (Trieb) und Cupiditas (Trieb mit dem Bewußtsein seiner selbst). Ersichtlich versichert sich Vygotskij (1989) dieses Gedanken in dem Manuskript von 1929, indem er über die bisherige Festlegung einer interindividuellen ebenso wie intraindividuellen Einheit (das Wort als Träger der Bedeutungen), und damit der Bestimmung des Prozesses von oben nach unten, nunmehr nach einer intraindividuellen Einheit sucht, welche die Tätigkeit von unten nach oben generiert, sowie nach der (dialektischen) Vermittlung dieser beiden Aspekte.

Indem der Mensch in seiner psychischen Geschichte sich selbst konstruiert: ebenso mit Hilfe äußerer, nicht organisierter (d.h. nicht  in die funktionellen Systeme des Organismus eingebundenen) Mittel[7] wie auf Grund innerer Voraussetzungen, werden organische Konstruktionen geschaffen, wobei im Sinne Uchtomskijs ein System neurologischer Funktionen ein Organ ist. Der Mensch baut also mittels instrumenteller Tätigkeit neue Organe (gedacht nach dem Modell der Dominante).

Vygotskij behandelt zunächst (ebd., S. 294 f.) ausführlich die Verwandlung sozialer Prozesse in individuelle: indem eine Geste, eine Tätigkeit an sich zur Tätigkeit für andere wird, wird sie durch deren Erwiderung (im sozialen Verkehr, in Kooperation und Kommunikation) zur Tätigkeit für sich, für das Subjekt. Aus der Verteilung des Befehls auf zwei Personen wird die intrapsychische willkürliche Aufmerksamkeit, aus dem Streit mit anderen das Denken als Streit mit sich selbst usw. Es ist das allgemeine Gesetz der kulturellen Entwicklung, daß jede Funktion zweimal auftritt, erst sozial, dann psychisch. Hinter dieser Feststellung taucht jedoch die noch zu leistende Untersuchung auf: nicht nur wie sich das Bewußtsein auf das Leben, sondern auch, wie sich das Leben auf das Bewußtsein auswirkt.

Dies geschieht im Zusammentreffen von Organen (im Sinne von Uchtomskij, also funktioneller Systeme des Gehirns) und dem Faktum des gesellschaftlichen Lebens, d.h. der Interaktion mit Individuen, die von anderer Art ist, als die zwischen sonstigen Dingen (ebd., S. 298). Dabei kann und muß es zu Konflikten zwischen sozialem und individuellen Leben kommen, da die in das Bewußtsein übergehenden Begriffe dort mehr sind als (1) ihre Inhalte und (2) ihre Benutzung als Werkzeuge bezogen auf die Inhalte. Das Zeichen schiebt sich am Beginn zwischen Objekt und Subjekt als Werkzeug. Später dann zwischen mich und mein Gedächtnis (ebd., S. 297). Begriffe sind somit zugleich Mittel der Einwirkung auf das eigene Gehirn, auf die eigene Geschichte und treten somit in Konflikt mit vergangenen (was zu entsprechenden Affekten führt; s.u.). Dies schafft jene dramatische Psychologie des konkreten Menschen, die Vygotskij in Anschluß an Georges Politzer (vgl. 1974, 1978) skizziert: Spaltung des Charakters und unterschiedliche Gefühlslagen und Handlungen in unterschiedlichen Situationen. In der Rolle des Richters stellt dieser das Denken über die Leidenschaft, in der Rolle des Ehemanns die Leidenschaft über das Denken (Vygotskij a.a.O., S. 302). Das Resultat sind komplexe, relationale Konstellationen psychischer Systeme zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Entwicklung ebenso wie zu einem gegebenen Zeitpunkt.

Dies zu untersuchen ist der Gegenstand der psychologischen Konzeption die Vygotskij ab diesem Zeitpunkt entwickelt und am 8. 10. 1930 erstmals in dem Vortrag an der I. Moskauer Nervenklinik zu dem Thema Die psychischen Systeme einer kritischen Öffentlichkeit vorstellt.

4. Die psychischen Systeme und das Problem der Altersstufen

Mit diesem Vortrag möchte Vygotskij (1985c) Lücken füllen in der Bestätigung seiner Hypothese, daß psychische Systeme komplizierte Verbindungen zwischen einzelnen Funktionen darstellen[8]. Es ist der noch nicht abgeschlossene Versuch (ebd., S. 319), die pathologische und die genetische Forschungsrichtung zu vereinen. An einer Reihe von Beispielen, von der Trennung von Motorik und Wahrnehmung bis hin zur Genesis des Willens aus der Situation von Mutter und Kind, aus der vergleichenden Kulturpsychologie (Levy-Bruhls »Traum des Kaffern«), zur Psychologie des Übergangsalters und zur Schizophrenie, zeigt er, geordnet nach Komplexität, wie sich komplizierte Verbindungen zwischen Funktionen verändern, wie sich entwickeln (Übergangsalter) und wie sie zerfallen (Schizophrenie). Aber noch fehlt der allgemeine theoretische Standpunkt [...], von dem ich das gesamte Material überschauen könnte. Ein verfrühtes Theoretisieren jedoch wäre meines Erachtens ein Fehler. (ebd., S. 322)

Was aber bei aller Vorläufigkeit von höchstem Interesse ist, ist eine Bemerkung zur Genesis der Emotionen. Sie zeigt, daß Vygotskij sich seit diesem Zeitpunkt nicht nur mit einer methodologischen Kritik der bisherigen Emotionstheorie in seinem berühmten Spinoza-Manuskript beschäftigt (1933/1996b), von dem nur der Teil über Descartes abgeschlossen wurde. Er entwickelt hierzu eine spinozanische Alternative, indem er die dialektische Einheit von Emotion und Kognition positiv aufgreift, die er später in der Auseinandersetzung mit Lewins Theorie des Schwachsinnigen als unteilbare Einheit, als Zelle des Psychischen bestimmen wird. In subjektiver Hinsicht ist diese unteilbare Einheit das Erleben des Kindes[9].

In dem Vortrag von 1930 über Die psychischen Systeme hebt Vygotskij in den Traditionen Spinozas (er verweist hier explizit auf die Ethik) die Historizität der Gefühle hervor:

Die historische Entwicklung der Affekte bzw. Emotionen besteht hauptsächlich darin, daß sich ihre ursprünglichen Verbindungen ändern; es entstehen eine neue Ordnung und neue Verbindungen. [...] Die Tatsache, daß ich Dinge denke, die sich außerhalb von mir befinden, das verändert an ihnen nichts, aber die Tatsache, daß ich Affekte denke, daß ich sie in andere Beziehungen zu meinem Verstand und anderen Instanzen bringe, das verändert vieles in meinem psychischen Leben (1985c; S. 343)[10].

Komplizierte Gefühle treten also nur historisch auf, sie sind eine Kombination von Beziehungen, die sich aus historischen Lebensbedingungen ergeben; im Entwicklungsprozeß kommt es zu einer Verschmelzung der Gefühle. (S. 344) Mit diesem Mechanismus der positiven Rückkoppelung (die Bewältigung des Lebens ist nicht nur von den jetzigen sondern vor allem auch von den früheren Affekten abhängig) ist jener Prozeß der stabilisierenden Selbstentwicklung des Subjekts begriffen, der erforderlich ist, um die Selbstentwicklung des Subjekts weder biologistisch noch unter dem Aspekt der Interiorisation soziologistisch mißzuverstehen[11]

Der Schlußteil dieses Aufsatzes (ebd., S. 346 ff) verweist auf die Frage der Lokalisation, bereits angesprochen in Konkrete Psychologie des Menschen (Eine völlige Revision der Neurologie der höheren Prozesse. Lokalisation von Funktionen, nicht von Zentren; 1929/1989 S. 296), die Vygotskij abschließend und grundlegend in seiner letzten zu Papier gebrachten Arbeit analysieren wird (1985d), sowie auf sozialpsychologische und gesellschaftswissenschaftliche Aspekte (soziale und klassenpsychologische, professiographische und sekundär-charakterologische) der Untersuchung (a.a.O., S. 350f.). Er schließt mit dem Satz:

Die Systeme und ihr Schicksal – in diesen Worten liegt meines Erachtens das A und O unserer nächsten Arbeit. (ebd., S. 352)

Die Resultate dieser Arbeit sind m. E. am besten darzustellen, wenn wir mit der entwicklungspsychologischen Lösung des Systemsaspektes in der Arbeit Das Problem der Altersstufen von 1933 (Vygotskij 1987 a) beginnen.

Auf der Basis der Analyse bisheriger entwicklungspsychologischer Theorien versucht Vygotskij Prinzipien einer gültigen Periodisierung herauszuarbeiten. Betrachtet man diesen Prozeß als ununterbrochenen Prozeß der Selbstbewegung, so sind Neubildungen das entscheidende Kriterium einer neuen Entwicklungsstufe (S. 59). Darüber hinaus ist jedoch die Dynamik der Übergänge selbst zu berücksichtigen (S. 60), ihr krisenhafter Charakter, der oft als »Krankheit« der Entwicklung mißverstanden wird. Diese Übergänge erinnern an den revolutionären Verlauf von Ereignissen, sowohl hinsichtlich des Tempos der vor sich gehenden Veränderungen, als auch ihrer Bedeutung nach (S. 61). Besonderheiten der jeweiligen Krise sind: 1. Die Grenzen zu den benachbarten Altersstufen sind höchst undeutlich; 2. ein beträchtlicher Teil der Kinder befindet sich in Erziehungsschwierigkeiten (aber nicht notwendig alle); 3. der negative Charakter der Entwicklung,  der eher aus zerstörerischer als aus schaffender Arbeit zu bestehen scheint (S. 62 ff). Die progressive Entwicklung erlischt scheinbar.[12] Entwicklung ist demnach ein Prozeß des Wechsels von stabilen und kritischen Perioden.

Teil 2 der Arbeit behandelt Struktur und Dynamik der Altersstufe. Die Struktur wird als ein dynamisches, ganzheitliches Gebilde betrachtet, wobei für jede Alterstufe typisch eine zentrale Neubildung ist, die gleichsam den gesamten Entwicklungsprozeß führt (ebd., S. 72), denn jedes Alter verfügt über eine einmalige und unwiederholbare Struktur. Zentrale Entwicklungslinien und Nebenlinien tauschen in der Entwicklung die Plätze. So ist im Kleinkindalter die Sprache in ihrer Periode der Entstehung eng und unmittelbar mit den zentralen Neubildungen dieser Altersstufe, den ersten Umrissen des sozialen und gegenständlichen Bewußtseins des Kindes verbunden, so daß man nicht umhin kann, die sprachliche Entwicklung zu den zentralen Entwicklungsprozessen dieser Periode zu rechnen(ebd., S. 74). Derselbe Prozeß ist jedoch im Säuglingsalter Nebenlinie und tritt auch später im Vorschulalter oder im Schulalter hinter andere Prozesse zurück (vgl. die folgende Abbildung).

 

Vygotskijs Konzeption der Altersstufen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Ellipsen: aufeinander aufbauende Altersstufen. Bereich der Linien: stabile Phasen

Bereich der Rechtecke: krisenhafte Übergänge

Linien:  ___ : zentrale Entwicklungslinien; ¼ :Nebenlinien der Entwicklung

® : Entwicklungsvektoren

 

In der methodologischen Erörterung der Altersstufen und ihrer Übergänge hebt Vygotskij zunächst die Charakteristika der stabilen Phase hervor:

Das primäre und wesentliche Moment für eine allgemeine Bestimmung der Dynamik der Altersstufe ist die Erfassung der Beziehungen zwischen der Persönlichkeit des Kindes und seinem sozialen Milieu auf jeder Altersstufe als veränderliche Beziehungen(ebd., S. 75). Die Untersuchung dieser Entwicklungssituation ist dem dritten Teil dieses Aufsatzes vorbehalten, der sich mit der Dynamik der Alterstufe (in ihrem stabilen Teil!) beschäftigt und das Thema der adäquaten sozialen Entwicklungssituation mit der Frage der Zone der nächsten Entwicklung aufgreift. Unter außer acht lassender Bestimmung der Zone der nächsten Entwicklung für die anderen Seiten der Persönlichkeitdes Kindes außerhalb des Bereichs der Intelligenz (ebd., S. 85), wird als Quelle der psychischen Entwicklung in jenem Bereich, in dem die in Reifung befindlichen Prozesse der Entwicklung liegen, einerseits die Nachahmung, andererseits die Zusammenarbeit mit anderen hervorgehoben. Dieser Prozeß stellt den speziellen Fall der Wechselwirkung zwischen den idealen und den vorhandenen Formen dar, die wir oben als eines der allgemeinsten Gesetze der sozialen Entwicklung des Kindes bezeichnet haben(ebd., S. 87), also des allgemeinen Gesetzes, daß alle höheren Funktionen erst interpsychisch und dann intrapsychisch existieren und jenes oben diskutierten Verhältnisse von Allgemeinheit und Verallgemeinerung.

Wie aber faßt Vygotskij hier die Spontaneität, die Bewegung, den inneren Grund der Entwicklung in den krisenhaften Übergängen? Denn die zentralen Neubildungen selbst sind nicht Voraussetzung, sondern Resultat beziehungsweise Produkt der alterspezifischen Entwicklung(ebd., S. 76). Sie finden ihre volle Ausprägung erst gegen Ende der Alterstufe und führen dort zu einer Umgestaltung der gesamten Bewußtseinsstruktur des Kindes (ebd., S. 78 f.). Ist damit der Gedanke der Spontaneität, der Entwicklung wie durch Selbstzündung über Bord geworfen und durch die soziale Entwicklungssituation ersetzt?[13] Allein diese Frage zu stellen, heißt einem soziologistischen Mißverständnis aufzusitzen, denn die soziale Entwicklungssituation ist eine Resultante aus der sich durch innere Prozesse verändernden Umgebung des Kindes und aus äußeren Prozessen, so Vygotskij zeitgleich zur gleichen Problematik in seiner Arbeit Die Krise der Siebenjährigen(1933/1987b).

5. Das Erleben als untrennbare Einheit der sozialen Entwicklungssituation

Bezogen auf das Auftreten einer neuen Entwicklungsphase hält Vygotskij fest:

In die Wissenschaft muß ein Begriff eingeführt werden, der bei der Untersuchung der sozialen Entwicklung des Kindes bisher kaum verwendet wird. Wir untersuchen nicht hinreichend die innere Beziehung des Kindes zu den Menschen seiner Umgebung, wir betrachten es nicht als aktiven Teilnehmer einer sozialen Situation(1987b, S. 278).

Dabei ist es erstens von entscheidender Bedeutung, daß man bei der Erforschung der Umwelt (und damit der sozialen Entwicklungssituation ebenso wie der Zone der nächsten Entwicklung; W.J.) [...] von ihren absoluten Indikatoren zu den relativen übergeht. Untersucht werden muß die Umwelt des Kindes, wobei zunächst erforscht werden muß, was sie für das Kind bedeutet(ebd., S. 279).

Zweitens aber muß eine spezifische Einheit der Vermittlung von Kind und Umwelt gefunden werden. Das Erleben des Kindes ist die einfachste Analyseeinheit, von der man nicht sagen kann, ob sie den Einfluß der Umwelt auf das Kind oder eine Besonderheit des Kindes darstellt. [...] Das Erleben ist als innere Beziehung des Kindes zu dieser oder jener Seite der Wirklichkeit zu verstehen. Jedes Erleben ist stets ein Erleben von etwas. [...] Es ist biosozial orientiert, befindet sich zwischen Persönlichkeit und Umwelt, kennzeichnet eine Beziehung der Persönlichkeit zur Umwelt, zeigt, was ein bestimmtes Moment der Umwelt für die Persönlichkeit bedeutet (ebd., S. 281). Auf diesem Hintergrund stellt Vygotskij die These auf Die Umwelt determiniert die Entwicklung des Kindes über dessen Erleben der Umwelt. (ebd., S. 282, Hervorh. W.J.)[14]

Dies führt zu einer Neubetrachtung der Altersstufen und der Entwicklungskrisen, die nach Vygotskij tatsächlich einen inneren Ursprung haben (ebd., S. 284). Man sollte nicht gegen die bürgerlichen Theorien der kritischen Altersstufe auftreten, nicht dagegen, daß die Krise ein sehr tiefgreifender, in die kindliche Entwicklung eingeordneter Prozeß ist, sondern dagegen, wie die innere Natur des Entwicklungsprozesses selbst aufgefaßt wird. [...] Ich glaube, die innere Entwicklung geht immer so vonstatten, daß wir es mit einer Einheit von Persönlichkeits- und Umweltmomenten zu tun haben. [...] So betrachtet besteht das Wesen jeder Krise darin, daß sich das innere Erleben wandelt. (ebd., S. 285) Den Kern dieser Prozesse sieht Vygotskij in Veränderung der Bedürfnisse und Strebungen, also im am wenigsten bewußt werdenden und willkürlichen Teil der Persönlichkeit. Entsprechend entstehen beim Übergang von Altersstufe zu Altersstufe beim Kind neue Antriebe, neue Motive (ebd.).

Nicht biologistisch läßt sich dieser Prozeß mit Uchtomskijs Prinzip der Dominante begreifen, als Ausweitung der (historisch und kulturell vermittelten) Bedürfnisse auf der Basis der Organisation (vgl. Fußnote 1 bzw. 6) eines biologischen Prozesses, des Prozesses der neuropsychischen Entwicklung der Hirnfunktionen – es ist der Mensch, der das Gehirn steuert und nicht das Gehirn den Menschen (das Sozium!), so Vygotskij 1929 in der Konkreten Psychologie des Menschen (S. 303; Hervorheb. i. Orig.). Ich komme hierauf anhand von Vygotskijs letzter Arbeit (1934/1985d) zurück.

Die in der Krise der Siebenjährigen eingeführte Einheit des Erlebens wird systematisch in der Arbeit The problem of the environment (Vygotskij 1994) behandelt, geschrieben 1934 und erstmals erschienen 1935 als vierte Lektion in den bisher nicht in Übersetzung vorliegenden Grundlagen der Pädologie. Dieser Text ist von besonderem Interesse, weil Vygotskij in ihm das Verhältnis der beiden analogen gegensätzlichen Prozesse untersucht, die sich nunmehr in der Einheit der Wortbedeutung und in der Einheit des Erlebens auskristallisiert haben.

Angereichert durch drei Fallbeispiele der Entwicklung von Kindern mit unterschiedlichem Problemverhalten aus einer Familie wird im ersten Hauptteil (S. 338-346) deutlich, daß es das situations- und altersspezifische Erleben des Kindes ist, das den Charakter der Umwelt bestimmt[15]. Immer hängst das Erleben vom Verständnis der Situation ab (ebd., S. 343). Es ist eingebettet in den Prozeß der Entwicklung. Dieser wird als Weg der Konstruktionsbildung auf verschiedenen Ebenen der Verallgemeinerung verstanden, die Stück für Stück durch die Funktion der Sprache und damit der Wortbedeutungen zugänglich werden (ebd., S. 345). Folglich besitzen Kinder auf unterschiedlichen Stufen ihrer Entwicklung noch kein System der Kommunikation mit Erwachsenen, daß mit dem System der Erwachsenen hinreichend vergleichbar ist.

Was ist nun aber der spezifische Einfluß der Umwelt? Dieser Frage geht Vygotskij im zweiten Teil der Erörterungen nach (ebd., S. 347-353).

Von den anderen Formen geschichtlicher Entwicklung, der biologischen (Evolution) ebenso wie der historischen (Sozialgeschichte) unterschiedet sich die ontogenetische Entwicklung von ihren ersten primitiven Formen an durch das gleichzeitige Auftreten  der höheren, idealen Form, die am Ende der Entwicklungsperiode erscheint. Diese ideale oder finale Form ist in direkten, reziproken Handlungen bereits in die ersten Schritte des Kindes auf dem Weg seiner Entwicklung aus der rudimentären oder primitiven Form mit einbezogen (ebd., S. 349). Dies bedeutet u.a. im Bereich der Sprache, daß schon die ersten individuellen Worte des Kindes einen Teil des Dialogs mit seiner Mutter ausmachen, die schon die ideale Form gemeistert hat, die das Kind am Ende seiner Entwicklung erreichen soll. (ebd.,) Insofern ist die Umgebung eine Quelle der Entwicklung und keinesfalls ihr Setting. Fehlentwicklungen von behinderten Kindern entstehen folglich aus der gestörten Interaktion der rudimentären, primitiven Form mit der idealen, finalen Form (ebd.).

Ähnlich zeigt Vygotskij in seiner bereits 1931 abgeschlossenen Arbeit über Entwicklungsdiagnostik, daß durch mit dem Defekt eng verbunden in Form primärer Neubildungen ein Kern der Retardation entsteht, der am schwersten zu beeinflussen ist. Die höheren psychischen Funktionen sind als sekundäre Neubildungen jedoch durch das Kollektiv, durch die Kooperation beeinflußbar (die als primärer Faktor der Kompensation verstanden werden). Geschieht dies nicht oder nicht hinreichend, so kommt es unter Bedingungen sozialer Isolation zu tertiären Neubildungen pathologischer Art, die jedoch nicht unmittelbar dem primären Kern der Retardation zugeschrieben werden dürfen, sondern das Resultat neuer Strukturen des Selbst unter Bedingungen sozialer Isolation sind. (Vygotskij 1993, S. 255 ff.)

Dies bedeutet jedoch, daß die Umgebung des Kindes die angemessene ideale Form beinhalten muß, andernfalls schlägt die Entwicklung der korrespondierenden Aktivität, Charakteristik oder Persönlichkeitseigenschaft fehl (1994, S. 350). Kinder entwickeln sich auch untereinander, so z.B. entwickeln taubstumme Kinder durch gegenseitige Anregung und Kooperation ihre eigenen Kompetenzen. Allerdings erreichen sie dabei nicht das sonst mögliche Niveau der Aneignung der idealen Form (Wortbedeutung als Einheit von Verallgemeinerung und Verkehr sowie von Denken und Sprechen). Entscheidend ist dabei immer, so zeigt Vygotskij an mehreren Beispielen, daß die Interaktion zwischen rudimentären und idealen Formen nicht abreißen darf (ebd., S. 351).

Dies führt uns zu der Folgerung: Da die ideale, finale Form nur über das Erleben des Kindes zur Bewußtseinsform des Kindes werden kann, kommt dem Erleben des Kindes, über das die Umwelt auf es einwirkt, und damit seinen affektiven und emotionalen Prozessen, höchste Bedeutung für das Lernen und insbesondere auch für das Konzept der Zone der nächsten Entwicklung zu.

Ersichtlich hat Vygotskij diesen Zusammenhang vor Augen, wenn er neben der Einheit des Erlebens in dem in diesem Band erstmals auf deutsch vorliegenden Aufsatz Das Problem des geistigen Zurückbleibens (1934/2001b), die Einheit von Affekt und Intellekt hervorhebt, welche innere Gesetzmäßigkeiten aufweist, die sie eben als Einheit kennzeichnen. Nur solange wir diese Einheit als Gegebenes bewahren, bewahren wir auch die Eigenschaften, die dieser Einheit zugrunde liegen. Zerlegen wir sie in ihre Elemente, zerstören wir ihre Eigenheit als proklamierte Ganzheit und verlieren alle Möglichkeiten, sie zu erklären. (ebd., S.153) In der kritischen Auseinandersetzung mit Lewin zeigt er theoretisch und experimentell die Dynamik beider Aspekte dieser Einheit sowohl im Denken als auch in der realen Handlung. Ebenso wie unsere Handlungen nicht ohne Grund auskommen, sondern von verschiedenen dynamischen Prozessen, wie Bedürfnissen und affektiven Antreiben bewegt sind, so ist auch unser Denken motiviert (ebd., S. 22). Dies aber bedeutet, daß sich über die Affekte das Handeln bzw. Denken und über das Handeln bzw. Denken die Affekte verändern können.

Insofern ist es nicht uninteressant, eine von Lewin notierte, aber theoretisch nicht behandelte Feststellung aus der Arbeit Eine dynamische Theorie der Schwachsinnigen hervorzuheben, die an dieser Stelle auch Vygotskij entgangen ist. So bemerkt Lewin: Die Starrheit des Schwachsinnigen ist zum Teil Ausdruck seiner Hilflosigkeit. Der Schwachsinnige hat ja sehr viel häufiger Unglück (1967, S. 391) und Das Kind gibt sich etwa mit einem niedrigeren Turm zufrieden, wenn ihm der Bau eines hohen Turmes nicht gelingt (ebd., S. 393). D.h. die dynamischen Verknüpfungen von Affekt und Intellekt reichen auch in die antizipierte Zukunft und regulieren in der Form des Anspruchsniveaus wesentlich das Erleben der Person, ebenso wie sie in der Gegenwart als Übertragung oder Gegenübertragung, so die psychoanalytische Einsicht, vergangene affektive Erfahrungen über die gegenwärtige Wahrnehmung legen.

Ersichtlich hat Vygotskij auf der Seite des Subjekts mit der Einheit des Erlebens und der Einheit von Affekt und Intellekt ebenso wie auf der Seite des sozialen Prozesses mit der Einheit der Wortbedeutungen das Problem der Einheit der psychischen Prozesse (psychologischer Materialismus) so angegangen, daß die eine Seite, die der Wortbedeutung, der Geschichte im Sinne des historischen Materialismus und die andere Seite, die der Einheit des Erlebens bzw. des Zusammenhangs von Affekt und Intellekt der Geschichte im Sinne des dialektischen Materialismus (d.h. dem biologischen Prozeß) entspringt. Darauf verweist auch die mehrfache Verwendung des Konzepts der Dominante.

Trotzdem bleibt uns noch zu klären, wie er die neuropsychologische Seite dieses Prozesses denkt, in der durch die Einwirkungen des Sozialen, vermittelt über die Eigenaktivität des Gehirns (die Dominante bzw. das System der Dominanten), das Gehirn sich neu organisiert, indem es sich einen Inhalt schafft, der nicht ihm selbst angehört, sondern der Welt. Dies geschieht, wie wir wissen, in Form von sozialen (Wort-)Bedeutungen, die vermittelt über das Erleben der Person es dieser ermöglichen, zu werden, was sie von Anfang an ist. Abschließend werden wir uns zu fragen haben, wie wir die Einheit der Vermittlung, für welche die Zone der nächsten Entwicklung bis dahin als Platzhalter stehen möge, neu zu denken haben.

6. Die dynamische Lokalisation neuropsychischer Prozesse in der Entwicklung des Kindes

In dem Aufsatz Die Psychologie und die Lehre von der Lokalisation psychischer Funktionen (Vygotskij 1934/1985d), den Leont’ev als Ausgangspunkt einer neuen Wissenschaft, der Neuropsychologie betrachtet (1997, S.31) und Lurija als das erste und umfassendste Programm für die Erforschung der funktionellen Organisation des Gehirns hervorhebt (1984, S. 23), argumentiert Vygotskij wie folgt. Das Problem der Lokalisation ist das Problem des Verhältnisses zwischen strukturellen und funktionellen Einheiten der Hirntätigkeit. Weder die klassische Lokalisationstheorie noch die Antilokalisationstheorie noch ihre parallelistische Vereinigung in Goldsteins Theorie zweier Funktionen eines Zentrums können die grundlegende, zu einer Einheit verbundene Besonderheit des menschlichen Bewußtseins erfassen (a.a.O., S. 353 ff.). Denn ein adäquates System neuropsychologischer Analyse muß berücksichtigen, daß (a) sich die interfunktionellen Beziehungen und Verbindungen ständig ändern, daß sich (b) komplizierte dynamische Systeme bilden, (c) die Wirklichkeit im Bewußtsein verallgemeinert widerspiegelt (ebd., S. 355).

Er folgert:

(1) Eine Funktion ist niemals mit der Tätigkeit irgendeines einzelnen Zentrums verbunden, sondern stets das Produkt der integrierenden Tätigkeit (spezifischer, jeweils; Einfügung W.J.) streng differenzierter, hierarchisch miteinander zusammenhängender Zentren. (ebd., S. 356)

(2) daß die Funktion des Gehirns als ganzes [...] ebenfalls keine ungegliederte, gleichförmige, in funktioneller Hinsicht eine Gesamtheit bildende Tätigkeit aller übrigen Zentren ist. [...] Wir haben es mit Gliederung und Einheit zu tun, mit einer integrierenden Tätigkeit der Zentren und ihrer funktionellen Differenzierung sowohl in der Funktion des Ganzen als auch in der Funktion eines Teils. Differenzierung und Integration schließen einander keinesfalls aus; eher setzen sie einander voraus und verlaufen in gewisser Hinsicht parallel (ebd.,).

Vygotskij unterlegt diese Einsichten mit den Resultaten experimenteller Untersuchungen, die er in insgesamt vier  Thesen verallgemeinert.

(1) Bei irgendeiner Herdschädigung werden alle übrigen Funktionen, die nicht unmittelbar mit dem geschädigten Abschnitte verbunden sind, in spezifischer Weise in Mitleidenschaft gezogen, weisen jedoch niemals den gleichen Abbau auf. (ebd., S. 357)

(2) Ein und dieselbe Funktion, die nicht mit dem geschädigten Abschnitt verbunden ist, wird bei unterschiedlicher Lokalisation der Schädigung ebenfalls auf jeweils ganz eigene, spezifische Art und Weise in Mitleidenschaft gezogen. (ebd.)

(3) Eine komplizierte Funktion (z.B. Sprechen) nimmt bei Verletzung irgendeines Abschnitts, der mit einem Aspekt dieser Funktion [...] verbunden ist, immer als Ganzes Schaden, in allen ihren Teilen, allerdings nicht gleichmäßig. (ebd., S. 358)

(4) Jede komplizierte Funktion, die nicht unmittelbar mit dem geschädigten Abschnitt verbunden ist, leidet in ganz spezifischer Weise [...], wenn der mit ihr in funktionaler Hinsicht sehr eng verbundene Abschnitt geschädigt ist. (ebd.)

Daraus folgert Vygotskij, daß sowohl die Funktion des Ganzen als auch die des Teils als integrierende Tätigkeit aufgebaut ist, der komplizierte interzentrale Beziehungen zugrunde liegen (ebd.,)

Welches ist aber nun die nicht hintergehbare Einheit mit der Zentren jetzt als System, als Einheiten von Struktur und Funktion neu gedacht werden? Hierauf verweist folgende Feststellung: Wir meinen, die spezifische Funktion jedes einzelnen interzentralen Systems besteht vor allen Dingen darin, eine völlig neue, produktive Form der Bewußtseinstätigkeit zu gewährleisten, nicht jedoch darin, lediglich Hemmungen und Erregungen in den niederen Zentren auszulösen. (ebd., S. 359) Ersichtlich ist hier das funktionelle System die elementare Einheit der Analyse (vgl. Lurija 1984)[16].

Meine Hypothese ist es, daß für diese spezifische, von Vygotskij entwickelte Lösung die Theorie der Dominante von hoher Bedeutung ist. Denn die Dominante ist in Uchtomskijs Konzeption bereits als funktionelles System gedacht (vgl. Simonov 1984, S. 174 ) und wird so von Vygotskij aufgegriffen. Allerdings bedarf diese Überlegung weitere Bestätigung durch den Einbezug einer 1926 von Vygotskij publizierten und nie wieder aufgelegten Arbeit zu dieser Thematik.[17]

Mit dem funktionellen System als Einheit der psychophysiologischen Analyse[18] hat Vygotskij ein Instrument, auch Probleme der Entwicklungsneuropsychologie erstmals methodologisch zu entwickeln und somit auch die Grundlagen einer Theorie der neuropsychologischen Basis der Veränderungen des Erlebens in den krisenhaften Übergängen zu schaffen. Als Basis dieses Übergangs kann heute die Etablierung neuer Repräsentationsniveaus des Psychischen begriffen werden, wie insbesondere unter Aufnahme des Werks von Wallon sowie moderner neuropsychologischer Arbeiten gezeigt werden kann (vgl. Jantzen 2000).

Vygotskijs allgemeine Lösung für diese Frage, die immer noch wegweisend ist, lautet:

Liegen Entwicklungsstörungen infolge irgendeines zerebralen Defekts vor, leidet in funktioneller Hinsicht, bei sonst gleichen Bedingungen, das, bezogen auf den geschädigten

Abschnitt nächsthöhere Zentrum (im Sinne eines in Entwicklung bzw. Konsolidierung befindlichen funktionellen Systems; W.J.) mehr als das im Vergleich zum geschädigten Zentrum nächstniedere Zentrum. Beim Zerfall beobachten wir das Gegenteil: Ist irgendein Zentrum verletzt, so wird, bei sonst gleichen Bedingungen, das im Verhältnis zum verletzten Abschnitt nächstniedere von ihm abhängige Zentrum mehr in Mitleidenschaft gezogen ... (a.a.O., S. 360).

Über das am Begriff der Dominante orientierte funktionelle System (organismisch und organisiert, vgl. Fußnote 6) ist ein unhintergehbare analytische Einheit gewonnen, die in physiologischer Hinsicht der psychologischen Einheit von Affekt und Intellekt entspricht.

Dies ist von Seiten des dialektischen Materialismus eine vergleichbare Übergangsstruktur zum psychologischen Materialismus, wie die Dimension der Wortbedeutungen von Seiten des historischen Materialismus. Die elementare Einheit des psychologischen Materialismus ist jedoch das Erleben, das gleichzeitig affektives Erleben und Erleben der Wirklichkeit in Form der zugänglichen (Wort-)Bedeutungen[19] ist sowie die dramatische Vermittlung beider Aspekte in der konkreten Psychologie.

7. Schlußbemerkungen: Mit Vygotskij jenseits von Vygotskij

Vygotskijs Ausarbeitung der Zone der nächsten Entwicklung macht deutlich, daß diese der für jeden Menschen unumgängliche Raum der Herausbildung der eigenen Persönlichkeit ist. Indem der Mensch an sich, zum Menschen für andere wird, wird er durch deren Reaktion Mensch, Persönlichkeit für sich. Die Zone der nächsten Entwicklung ist demnach eine soziale Sphäre wechselseitiger Übergänge zwischen Subjekt(en) und Objekt, deren psychologische Form man mit Leont’ev als Tätigkeit beschreiben kann, deren relativ abgeschlossener, systemischer Charakter vermutlich jedoch mit Lotmans (1990) Konzept der Semiosphäre weit besser gefaßt wäre: Als Konzeption eines Übergangsraumes, in dem, wie wir nun (sowohl aus der Psychologie Wallons wie aus der modernen Bindungsforschung) wissen, emotionale Bestätigung die Grundlage für das Lernen von Neuen ist (vgl. Jantzen 2001). Hegels Thematisierung der Anerkennung als Voraussetzung der Entwicklung des Selbstbewußtseins, Feuerbachs Säkularisierung des himmlischen Gottes in die  liebevollen Beziehungen zu anderen Menschen und Bubers dialogische Philosophie sind wesentliche Schritte, die in der psychologischen Kategorienbildung systematisch einzuholen sind (vgl. auch Sampson 1993).

Die Pädagogik hat dies u.a. mit der Pädagogik der Unterdrückten von Freire (1973) bereits begonnen und innerhalb des Vygotskij verpflichteten Denkens hat wohl kaum jemand dies so betont, wie Christel Manske in ihren verschiedenen Arbeiten (z.B. 1979, 1988). Vielleicht könnte - in Anlehnung an Bourdieus Soziologie – von einem Feld der Anerkennung gesprochen werden. In dieser Hinsicht hätte in der Zone der nächsten Entwicklung der individuellen Einheit des Erlebens eine soziale Einheit wechselseitiger Entsprechung von Affekt und Intellekt (als kollektive Einheit von Dialog, Kooperation und Kommunikation; vgl. Jantzen 1990, Kap. 10) im Übergang von unten nach oben (von der rudimentären zur idealen Form) zu entsprechen. Für den Übergang von oben nach unten, für dessen verschiedenen Dimensionen des Bedeutungserwerbs insbesondere die Interiorisationstheorie der Schule Galperins unverzichtbare Vorarbeiten geliefert hat (vgl. Ferrari und Kurpiers 2001), stellt das dort vertretene Konzept der Zone der nächsten Entwicklung nur die halbe (kognitive) Wahrheit dar. Es bedarf dringend jener (affektiven) Ergänzung, auf die das wissenschaftliche und praktische Werk von Christel Manske seit langem verweist.

 

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[1] Da die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Marx 1983) erst 1939 veröffentlicht wurden, bleibt unklar, ob Vygotskijs Bemerkung in der Krise der Psychologie ... (1985b) an Marx orientiert oder eine kongeniale, eigenständige Formulierung ist: Dabei bin ich von dem Gedanken ausgegangen, daß die entwicklelten Kunstformen den Schlüssel zu den weniger entwickelten liefern, wie die Anatomie des Menschen uns den Schlüssel zur Anatomie des Affen liefert ... (S. 229)

[2] Vgl. den ausführlichen Bezug auf das Gesetz der Dominante von Uchtomskij neben dem Gesetz der inneren Hemmung bedingter Reflexe von Pavlov (Vygotskij 1985a, S. 282 ff.) sowie das erneute Aufgreifen dieser Problematik in Konkrete Psychologie des Menschen(Vygotskij 1989). Zu Uchtomskijs Theorie der Dominante liegt nur sehr wenig Literatur in westlichen Sprachen vor, eine gute Einführung leistet Rusinov (1973), zur aktuellen Bedeutsamkeit des Konzepts für eine Theorie der Aufmerksamkeit (und damit für eine Erweiterung der Theorie funktioneller Systeme; vgl. Jantzen 1990, S. 49 ff.) siehe Kryukov 1991.

[3] Wir dürfen hier Leont’evs Arbeit ergänzend anführen, da der zitierte Abschnitt aus der Entwicklung des Gedächtnisses auch unter dem Titel The development of voluntary attention in the child als dritter Teil einer gemeinsam von Vygotskij, Lurija und Leont’ev publizierten Artikelfolge Studies on the cultural development of the child 1932 im Journal of Genetic Psychology (Vol. 4, 52-81) erschienen ist und in dieser Hinsicht auch Vygotskijs Positionen entspricht.

[4] Vgl. hierzu auch die gerade erschienenen Frühschriften von Leont’ev (2001), insbesondere die Arbeit über die Entwicklung des Gedächtnisses (1929), von der bisher nur Ausschnitte in deutscher Übersetzung vorlagen (Leont’ev 1973, S. 323-376).

[5] Vgl. Yaroshevsky 1989, S. 96 ff. Vygotskij organisierte 1925 und 1926 ein psychologisches Labor für abnormale Kinder an der Universität Moskau, wurde 1929 Leiter des Experimental-Defektologischen Instituts (später Institut für Defektologie der Akademie der pädagogischen Wissenschaften) (ebd., S. 123) und hatte über lange Jahre täglichen persönlichen Beratungskontakt mit behinderten Kindern (ebd., S. 128)

[6] Dort verstanden als widersprüchliche Einheit von Naturalform und Wertform, Gebrauchswert und Wert, konkreter und abstrakter Arbeit.

[7] Vergl. zu dieser Begriffsbildung die Fußnote 4 der Übersetzung (S. 304): Es geht Vygotskij mit dem Begriff organisiert ersichtlich um beide Aspekte: organismische, also dem Organismus zugehörige Instrumente und organisierte, im Sinne des Auswachsens zu einem Organ durch die soziale Vermittlung.

[8] Ein System ist für Vygotskij die komplexe Verknüpfung von Struktur und Dynamik (1933/1987a, Abs. 2), von Struktur und Funktion. So schreibt er in seiner letzten Arbeit (1934/1985d) bezogen auf das Problem der Lokalisation: Die Struktur- und Funktionsanalyse, die nicht imstande ist, die Tätigkeit insgesamt zu erfassen, ist abzulösen durch die interfunktionelle Analyse beziehungsweise die Systemanalyse, welche darauf basiert, daß man für jede Tätigkeitsform die bestimmenden, interfunktionellen Verbindungen und Beziehungen herausfindet. (S. 362)

[9] So haben wir es beim Erleben mit einer unsichtbaren Einheit persönlicher Erfahrungen und situationaler Charakteristika zu tun, die im Erleben (perezhivanie) repräsentiert sind (Vygotskij 1934/1994)

[10] Diese affektive Rückwirkung des Denkens auf das Gehirn (vgl. Vygotskij 1929/1989) entspricht Spinozas Gedanken der Aufhebung der Affekte durch Affekte, die auch für die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten gilt. Diese vermag einen Affekt nicht zu hemmen, sofern sie wahr ist, sonder allein, sofern sie als Affekt angesehen wird (Spinoza 1989, Teil IV, Lehrsatz 14).

[11] Ein solches Mißverständnis äußert der frühe Leont’ev  in den posthum veröffentlichten Materialien über das Bewußtsein von 1933: Weil das Problem einer rückbezüglichen Bewegung zwischen Emotion und Intellekt prinzipiell unlösbar sei (It couldn’t be solved) sei Vygotskijs Konstruktion zu den klassischen Positionen der französischen Soziologenschule zurückgekehrt: Consciousness became something derived from societal consciousness (Leont’ev 1990, S. II)

[12] Insgesamt unterscheidet Vygotskij (1987 a) die folgenden stabilen und labilen Entwicklungsabschnitte: Krise des Neugeborenen, Säuglingsalter (2-12 Mon.), Krise des Einjährigen, Kleinkindalter (1-3 Jahre), Krise des Dreijährigen, Vorschulalter (3-7 Jahre), Krise des Siebenjährigen, Schulalter, (8-12), Krise des Dreizehnjährigen, stabile Phase des Übergangsalters (14-16 Jahre), Krise des Siebzehnjährigen, Erwachsenenalter (S. 70).

[13] Daß dies nicht sein kann, wird auch aus der Feststellung ersichtlich Die Reifungszeit einer bestimmten Funktion ist die günstigste, optimale Periode für die entsprechende Art des Unterrichts. (ebd., S. 87)

[14] Vergl. hier Rubinsteins Annahme Die äußeren Ursachen wirken durch die Vermittlung der inneren Bedingungen (1971, S. 162), die Leont’ev (1979, S. 78) als nicht vollständige Überwindung des Unmittelbarkeitspostulats der behavioristischen Psychologie kritisiert. Aber eben das, was Leont’ev als eigene Position positiv herausstellt, ist bis auf die daran anknüpfende Ausarbeitung der Kategorie Tätigkeit (Tätigkeit ist die motivgeleitete Form der Aktivität, die nur in der Form von Handlungen existiert; W.J.) bereits in der These von Vygotskij enthalten. Leont’ev formuliert: In der Tätigkeit erfolgt auch der Übergang des Objekts in seine subjektive Form, in das Abbild; gleichzeitig erfolgt in der Tätigkeit auch der Übergang der Tätigkeit in ihre objektiven Resultate, in ihre Produkte. Nimmt man die Tätigkeit von dieser Seite, fungiert sie als ein Prozeß, in dem die wechselseitigen Übergänge zwischen den Polen »Subjekt - Objekt« verwirklicht werden. (ebd., S. 83)

[15] Perezhivanie wird mit emotional experience übersetzt. In einer Fußnote wird darauf aufmerksam gemacht, daß weder emotional experience noch interpretation dieses Wort adäquat wiedergeben, sondern daß die doppelte Bedeutung von perezhivanie (von perezhivat = erleben) am ehesten den deutschen Begriffen Erlebnis oder erlebte Wirklichkeit entspricht (ebd., S. 354).

[16] Leont’ev (1997 S. 373) verweist in einer Fußnote (Nr. 23) seiner Einleitung in Vygotskijs Werke (geschrieben in den späten 1970ern) darauf, daß zur gleichen Zeit N.A. Bernstein zu einem ähnlichen Konzept auf einem anderen Wege gelangte. Dies war das Konzept dynamischer motorischer Systeme (vgl. Bernstein 1987). Anochins Theorie des funktionellen Systems (vgl. Anochin 1967, 1978) entstand zeitgleich bzw. später im Verhältnis zum Werk Vygotskijs, so daß an dieser Stelle ein spezifisches Problem von drei Wissenschaftlern unabhängig voneinander in vergleichbarer Weise gelöst wurde

[17] Es handelt sich um die Arbeit Problema dominantnych reakcij [Das Problem der dominanten Reaktionen]. In: Kornilov, K.N. (Hrsg.): Problemy sovremennoj psichologii (Probleme der gegenwärtigen Psychologie), Bd. 2, Leningrad 1926, S. 100-123. Vygotskij (2001a) verweist in seiner Argumentation, daß Adlers Begriff der Kompensation und Überkompensation dem Prinzip der Dominante entspreche, ersichtlich auf diesen Text. Van der Veer und Valsiner (1991, S. 32 f.) behandeln in Kürze den Inhalt dieser Arbeit und zitieren wörtlich eine Passage, die meine Auffassung stützt: Bezogen auf die Dynamik der Reaktion schreibt Vygotskij (1926, S. 105):›here we needed to look at the reaction from a completely different side, study in a new aspect - not in the role of response to stimulation, but in a new role - that of diverting, inhibiting, amplifying, directing, and regulating the dynamics of other reactions.

[18] Vgl. zur Diskussion der allgemeinen Theorie funktioneller Systeme - insbesondere auch unter dem Aspekt der Miteinbeziehung des affektiven Bereichs - Jantzen 1990, Kap. 7.

[19] In dieser Hinsicht entspricht Vygotskijs Lösung weitgehend der von Leont’ev, der hier mit der Dialektik von Sinn und Bedeutungen argumentiert (vgl. Leont’ev 1979, Jantzen 1994) und in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Vygotskij gerade dem Aspekt des Erlebens höchste Bedeutung zumißt (vgl. die 1937 verfaßte und bis vor kurzem unpublizierte Arbeit Die Lehre von der Umwelt in den pädologischen Arbeiten von L.S. Vygotskij. Eine kritische Untersuchung in: Leont’ev 2001, S.289-305)