Das spinozanische Programm der Psychologie: Versuch einer Rekonstruktion von Vygotskijs Methodologie des psychologischen Materialismus[1]

 

Wolfgang Jantzen

 

 "Spinozas Probleme harren ihrer Lösung, ohne die es für unsere Psychologie keine Zukunft gibt" (Vygotskij 1996, 205)

 

Vygotskij ist modern geworden - zumindest im angloamerikanischen Bereich. Publikation auf Publikation erreicht uns. Zwei Bände der russischen Werkausgabe liegen unterdessen auf Englisch vor: "Denken und Sprechen" in einer Neuübersetzung sowie die defektologischen Arbeiten (Vygotskij 1987 a, 1993). Verschiedene mehr oder weniger umfangreiche, mehr oder weniger solide biographische Studien  verweisen auf  bisher unbekannte Zusammenhänge von Leben und Werk. Vygotskij, der "Mozart der Psychologie", Vygotskij der zu Piaget kongeniale Schöpfer einer konstruktivistischen Entwicklungspsychologie, Vygotkijs Konzept der "Zone der nächsten Entwicklung" als Basis moderner und kindgemäßer Diagnostik- und Didaktikkonzeptionen. Von allem ist die Rede, nur nicht  von Vygotskijs Methodologie und  schon gar nicht von seinem Verhältnis zu Spinoza.

Vygotskij ist vorsichtig, sich bestimmten Traditionen zuzuordnen. Texten vorweg gestellte Zitate sind selten: Aus Spinozas "Ethik" bei der "Psychologie der Kunst" (Vygotskij 1976), aus dem "Kapital" von Karl Marx bei "Das Bewußtsein als Problem der Psychologie des Verhaltens" (Vygotskij 1985 a), aus Friedrich Engels "Dialektik der Natur" bei der "Geschichte  der höheren psychischen Funktionen" (Vygotskij 1992) und ein Satz aus dem Matthäus-Evangelium steht der großen Schrift "Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung (1958 b)" vorweg: "Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.

Dieser Baustein ist eine den Traditionen Spinozas verpflichtete Methodologie des Faches, unumgänglich für die Herausbildung einer Theorie des psychologischen Materialismus.  Und dies bedeutet, daran läßt Vygotskij keinen Zweifel, die Herausbildung einer wissenschaftlichen Psychologie schlechthin. Orientiert an Spinozas "Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes" (Spinoza 1977) ist die Gewinnung eines einheitlichen Erklärungsprinzips für jede Wissenschaft "eine Frage auf Leben und Tod" (Vygotskij 1985 b, S. 83). Die Psychologie befindet sich wie auch andere Wissenschaften in unterschiedlichen Stufen des Übergangs vom Beschreibungs- zum Erklärungswissen. Eine Methodologie für diesen Übergang kann jedoch nicht aus der Philosophie gewonnen werden. Allgemeine Wissenschaft, also Ausarbeitung der Erklärungsprinzipien eines Faches, ist  Philosophie der Spezialdisziplinen und niemals nur logische Disziplin; theoretische Biologie bleibt immer auch biologische Disziplin. Wenn also in jedem Begriff des Faches zugleich eine Tatsache enthalten ist, und jede Tatsache bereits einen Begriff enthält, so ist "der Unterschied zwischen allgemeinen und empirischen Wissenschaften im Hinblick auf das Forschungsobjekt ein rein quantitativer und kein prinzipieller" (ebd. S. 91). Soll also die Krise der Psychologie überwunden werden, so ist ein System von Begriffen erforderlich, das ontologische Widersprüche ausschaltet, insbesondere jedoch die Aufteilung in naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche, erklärende und verstehende Psychologie überwindet. Davon wird noch die Rede sein, doch zunächst folge ich Vygotskijs Vorgehensweise in seiner Darstellung der "Krise der Psychologie".

Begriffe, die im Übergang vom Beschreibung zum Erklärungswissen entstehen, haben ein allgemeines Schicksal, das Vygotskij in fünf Phasen beschreibt. Von einem Teilaspekt werden sie als nützliches methodologisches Instrumentarium auf Teile des Faches, ja möglicherweise auf das gesamte Fach ausgedehnt. Sobald sie jedoch den ihnen entsprechenden Wirklichkeitsbereich überschreiten, unterliegen sie dem Schicksal, daß je mehr ihr Inhalt gegen unendlich geht, ihr Erklärungsgehalt gegen Null geht. So - als Welterklärungsprinzip zur philosophischen Tatsache geworden,  ein zum Ochsen aufgeblähter Frosch -, erfahren sie ihre Kritik und finden möglicherweise nunmehr ihren  angemessenen Platz in der Allgemeinen Wissenschaft des Faches.

Nur durch sorgfältige theoretische Arbeit, also durch die Entwicklung einer entsprechenden Methodologie, können  Begriffe ihren angemessenen Platz finden. Dies bedeutet aber Begriff und Theorien zum Gegenstand der Forschung und nicht zum Gegenstand der Kritik zu machen. Durch systematische theoretische Bedingungsvariation, Vygotskij kommt hierauf insbesondere in dem für dieses Buch zentralen Kapitel 13 zu sprechen, ist es möglich, eine allgemeine Begrifflichkeit des Faches zu erarbeiten.  Wie soll dies vonstatten gehen?  Unter Bezug auf eine ausführliche Passage von Spinozas "Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes " (Spinoza 1977, S. 14 f, vgl. Vygotskij a.a.O. S. 98) plädiert Vygotskij für eine restlos historische, konstruktivistische Methode. Das begriffliche Instrumentarium jeder psychologischen Theorie kann als Werkzeug verwendet werden, die ontologischen Widersprüche zu überprüfen, in die es mit jeweils anderen psychologischen Theorien gerät. Auf diese Weise kann Begriff  für Begriff die Reichweite der jeweiligen Begriffe im Verhältnis zu allen anderen bestimmt werden, um die dann bestehenden Widersprüche auf einer neuen Ebene der Untersuchung zuzuführen (vgl. ebd. S. 229).

Marx-Kenner erinnern sich hier an die Analyse des wechselseitigen Zusammenhangs von Produktion, Zirkulation, Distribution und Konsumtion in der Einleitung zu den "Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie" (Marx 1983). Marx darf in diesem Kontext zurecht zitiert werden, denn Vygotskij notiert: "Ich möchte nicht auf fremde Kosten erfahren, was Psychologie ist, indem ich ein paar Zitate heraussuche, sondern ich möchte an der ganzen Methode von Marx lernen, wie man eine Wissenschaft aufbaut, wie man an die Untersuchung herangeht." (a.a.0., S. 254)  Vygotskij selbst benennt unter weiteren Beispielen der theoretischen Analyse, also des Gedankenexperiments, u.a. die Analyse der Prozesse im Wesen der Kunst (ebd. S. 229 f).

Zunächst einmal müssen jedoch die Symptome der Krise der Psychologie überwunden werden, um zur Entwicklung der hier vorgeschlagenen Methodologie zu gelangen. Diese Symptome sind der Empirismus, der Daten und Fakten für selbstredend hält, der Eklektizismus, der Erklärungssysteme unterschiedlicher Provenienz so zusammenfügt, daß in dem ganzen Gebilde innerliche Widersprüche enthalten bleiben, und schließlich ist eine ungenaue Sprache ein wesentliches Symptom der Krise.

Hinter der Behandlung dieser Symptome der Krise und zugleich als Mittel der Behandlung eröffnet sich die naturwissenschaftliche, d.h. die induktiv-analytische Methode als Kernstück der Vorgehensweise. Einerseits hat die neue Wissenschaft sich an der empirischen Realität zu orientieren, muß induktiv verfahren, andererseits muß sie diese im Unterschied zum Empirismus in  stringenten Begriffen  und Begriffsystemen theoretisch hervorbringen können. Insofern muß zur Induktion die Analyse hinzutreten. Diese ist Analyse jedoch nur in Bezug auf die jeweils vorliegende Induktion. "Sie ist deren höchste Form und negiert deren Wesen (die Vielzahl). Sie stützt sich auf die Induktion und steuert sie. Sie stellt die Frage. Sie liegt jedem Experiment zugrunde, jedes Experiment ist eine Analyse in Aktion, wie jede Analyse ein Experiment in Gedanken ist"  (ebd. S. 227). Insofern führt die Analyse zu einer wohldefinierten Sprache, denn der analytische Begriff ist durch seinen Induktionsbereich definiert und bringt ihn hervor. Werden demnach Begriffsysteme wechselseitig untersucht, so hat dies immer im Verhältnis beider Begriffe zu ihrer jeweiligen induktiven Basis und der gemeinsamen induktiven Basis zu geschehen, um Eklektizismus zu vermeiden.

Begriffe sind nicht lineare Abfolgen. Sie haben der Ganzheitlichkeit und besonderen Qualität der naturgeschichtlichen, sozialgeschichtlichen und psychischen Prozesse zu entsprechen, auf die sie sich beziehen. Die unterste Einheit des Begriffs, welche die Ganzheit des Gegenstandes noch faßt, ist der Kern der simulierenden Abstraktion. Bei Karl Marx ist diese "Zelle" der Warenwert, bei Pavlov der unbedingte bzw. der bedingte Reflex. Der adäquate Begriff der untersten Einheit stellt zugleich die Ganzheit höherer Ebenen dar, die durch Konstruktion aus ihm zu gewinnen sind.  Entsprechend formuliert Vygotskij:  "Wer die "Zelle" der Psychologie, den Mechanismus einer Reaktion, zu enträtseln vermag, der hat den Schlüssel zur gesamten Psychologie gefunden" (ebd. S. 233). Und entsprechend kann auch erst dann das "Kapital" der Psychologie geschrieben werden (vgl. ebd. S. 252)

Mit der Gewinnung der "Zelle" der Psychologie sind jedoch keineswegs alle Probleme gelöst. Außerdem ist der Weg dorthin schwierig, da gleichzeitig der Grund der gegenwärtigen Krise der Psychologie, ihr Dualismus von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher, erklärender und verstehender Psychologie aufzulösen ist. Aber auch dann und auf dem Wege dorthin gilt, daß der Aufbau einer allgemeinen Wissenschaft das Problem des Maßstabs zu beachten hat. Von der Höhe Hegels ist es sinnlos, Urteile über die Physiologie Bechterevs und Pavlovs zu fällen (ebd. S. 250). Das begriffliche System der allgemeinen Wissenschaft erfordert demnach nicht nur den Bezug auf die gesamte induktive Breite der Ereignisse, und dies im Kontext  der Interdisziplinarität, es erfordert zugleich auch eine hinreichende Präzision in der analytischen Tiefe, innerhalb derer jede analytische Stufe zugleich induktiver Ansatzpunkt der nächst höheren Ebene der Analyse ist, und diese Ausgangspunkt der Simulation aller unter ihr liegenden Ebenen.

Methodologie im Sinne von Vygotskij zielt demnach auf die Ausarbeitung eines Systems und ist ein solches System vermittelter und konkreter, d.h. dem Maßstab der jeweiligen Wissenschaft angemessener Begriffe. Entsprechend benötigen die Geschichte und die Soziologie "eine vermittelnde, besondere Theorie des historischen Materialismus, die herausarbeitet, welche konkrete Bedeutung die abstrakten Gesetze des dialektischen Materialismus für die jeweilige Gruppe von Erscheinungen haben. Genauso benötigt wird die noch nicht geschaffene, aber unerläßliche Theorie des biologischen Materialismus und des psychologischen Materialismus als vermittelnde Wissenschaft, die klärt, wie die abstrakten Lehrsätze des dialektischen Materialismus auf ein bestimmtes Gebiet von Forschungen konkret anzuwenden sind" (ebd. S. 251 f).

Bei der Ausarbeitung dieses Systems löst Vygotskij zunächst die idealistische Verdinglichung des Denkens und ihre Trennung von Natur und Gesellschaft auf. Gegenüber der erklärenden, naturwissenschaftlichen Psychologie der niederen, psychophysiologischen Funktionen bestimmt er als vermittelnde, und selbststeuernde Einheit des Verhaltens das sprachliche Zeichen (Vygotskij 1985 a). Es bildet die "Zelle" der Bewußtseinsfunktionen. Dies kann es aber nur, weil das Wort als sozialer Mikrokosmos Träger von sozialen Bedeutungen ist, die in Kommunikation und sozialem Verkehr historisch und kulturell präsent sind. Dieser Gedanke, bearbeitet in den zehn Jahren (1924 - 1934) zwischen dem Vortrag zum "Bewußtsein als Gegenstand einer Psychologie des Verhaltens" (Vygotskij 1985 a) und "Denken und Sprechen" (Vygotskij 1972) gibt Vygotskijs psychologischer Arbeitsrichtung den Namen instrumentelle bzw. später kulturhistorische Psychologie. Alle höheren psychischen Funktionen sind zunächst sozialer Natur, existieren zwischen den Individuen. Erst im Prozeß der Interiorisation wandern sie nach innen und gewinnen verhaltenssteuernden Charakter für das Individuum. So geht das Denken aus dem Streit mit anderen hervor, der Wille aus dem Befehl durch andere; keineswegs aber so, wie Leont'ev (1989/90) in seinen "Materialien über das Bewußtsein" in den 30er Jahren zunächst vermutet, daß damit der Fehler der französischen Soziologie wiederholt werde, indem das soziale Bewußtsein seine Verdoppelung als psychisches Bewußtsein erfahre. Immer ist die Tätigkeit des Subjekts, seine Ausgangsaktivität zu jedem Punkt der Entwicklung vorausgesetzt. "Jede neue Form der kulturellen Entwicklung kommt nicht einfach von außen - unabhängig vom Zustand des Organismus im entsprechenden Moment der Entwicklung. Der Organismus eignet sich vielmehr die äußeren Einflüsse und eine Reihe von Verhaltensformen an und assimiliert sie je nach der Stufe der psychischen Entwicklung, auf der er sich befindet" (Vygotskij 1992, S. 243, vgl. auch 1987 b). Genau diese Eigenaktivität schafft in Verbindung mit der sozialen Welt über die Qualität der jeweils möglichen Nachahmung die "Zone der nächsten Entwicklung". Innerhalb dieser vermag das Individuum mit der Hilfe anderer das zu tun, was es alleine noch nicht vermag. Das "An sich" in der Tätigkeit des Kindes wird in der Kooperation und im sozialen Verkehr zum "Für andere" und in der dort entwickelten gemeinsamen Qualität zum "Für sich" des Kindes. Es ist folglich Resultat des aktiven Herausholens des Abbilds der Welt, wie Leont'ev (1981) später einmal diesen Prozeß kennzeichnen wird. Insofern ist die von verschiedenen Autoren zwischen Vygotskij und Leont'ev als Diskontinuität notierte Differenz zwischen kulturhistorischer Theorie und Tätigkeitstheorie eine bloß äußere Unterscheidung. Schon die nur oberflächliche Lektüre von Spinozas (1979) "Ethik", Vygotskijs ständiger Bezugsrahmen,  belegt den dort zentralen Begriff der Tätigkeit. Vygotskij ist klug genug, einen philosophischen Begriff nicht vorzeitig in die psychologische Analyse einzuführen und Leont'evs (vgl. 1979) großes Verdienst ist es, dem Begriff Tätigkeit im System der Psychologie seine Stellung gegeben zu haben.

Meine These der methodologischen Sorgfalt Vygotskijs in der Ausführung der neuen Psychologie läßt sich an den Arbeiten  zwischen den beiden genannten  Schriften belegen. Zentral steht hier die "Geschichte der höheren psychischen Funktionen", 1931 geschrieben. Ihr vorweg gehen die Notizen über die "Konkrete Psychologie des Menschen" (1989), welche nur als Dramatische Psychologie geschrieben werden kann. In engem Kontext stehen die Arbeit über "Das Problem der Altersstufen" (1987 b), geschrieben zwischen 1932 und 1934 aber auch die mit Lurija  (Lurija und Vygotskij 1992) 1930 verfaßten "Studien zur Geschichte des Verhaltens Der Affe, der Primitive, das Kind"

Betrachten wir die "Geschichte der höheren psychischen Funktionen" (Vygotskij 1992). Vygotskij schreibt dieses Buch als Einheit der Entwicklung der Methodologie und des Gegenstandes, eine gegenüber der vorangestellten Behandlung der Methodologie höhere Stufe (S. 51). "Die Forschung, die wir im Auge haben, ist stets eine Gleichung mit zwei Unbekannten. Problem und Methode werden, wenn nicht parallel, so doch in jedem Falle in gemeinsamer Progression erarbeitet" (ebd. S. 78).

 Die Kinderpsychologie ist bisher vor allem dem Pol der frühen Kindheit verhaftet. Die höheren Funktionen sind noch nicht hinreichend in ihr Blickfeld gelangt. Sie verharrt am biologischen Pol. Aus der Kritik des Reiz-Reaktions-Prinzips und seiner Unangemessenheit für die höheren Funktionen (die verbale Instruktion selbst ist ebenfalls ein Reiz), arbeitet Vygotskij die Schwäche dieser Methode für die höheren Funktionen ebenso wie die bisher unangemessene Betrachtung der höheren Funktionen heraus. Der Dualismus von biologischen und sozialen Funktionen löst sich, wenn in der Ontogenese, die beide Prozesse umfaßt, der Gedanke der Vermittlung eingeführt wird. Höhere Funktionen als vermittelte Funktionen können prähistorisch in Form "psychischer Versteinerungen" (S. 115) entdeckt werden. Dies sind kulturelle Funktionen, die in früheren Etappen der Menschheitsgeschichte verhaltensbedeutsam, heute in rudimentärer Form im Alltagsleben existieren: Ein Los werfen, um sich zu entscheiden, ein Knoten im Taschentuch, um sich zu erinnern, oder das Abzählen an den Fingern. Vergleichbare Konstruktionen finden sich heute bei körperlicher und geistiger Behinderung (der Zugang zur Kultur ist erschwert, Kompensationen sind erforderlich und die Mittel der Selbstbeherrschung können u.U. nicht angeeignet werden), aber auch bei kindlicher "Primitivität", worunter Vygotskij die Situation von Kindern versteht, die sich in ungünstigen kulturellen Verhältnissen  entwickelt haben. Es ist nun Aufgabe der Entwicklungsychologie, derartige Prozesse erneut zu verflüssigen, die Übergänge zu untersuchen. Auf  Grund der bisherigen Untersuchungen  ergibt sich eine Stufung der Entwicklung in 1. Instinktverhalten, 2. reflektorisches Verhalten, 3. geistige Reaktionen, Planung, 4. instrumentelles Verhalten. (a.a.O. S. 246).

Zur gleichen Zeit, während er diese noch rudimentären Ansichten zur entwicklungspsychologischen Stufen abschließt, erarbeitet Vygotskij in dem Aufsatz "Das Problem der Entwicklungsstufen" (1987 b) eine Entwicklungstheorie , die von krisenhaften Umbrüchen ausgeht. In der kindlichen Entwicklung entsteht - dies ist der Hintergrund der jeweiligen Krise - in einer spezifischen sozialen Entwicklungssituation eine zentrale Neubildung. Von ihr ausgehend bildet sich sodann das gesamte System der psychischen Prozesse um. Damit sind die Grundlagen für eine dialektische Entwicklungspsychologie gelegt, die in den Krisen die Einheit und Unterschiedenheit von Affekt und Intellekt in den Mittelpunkt stellt und später von Elkonin und Boshowitsch zu der bis heute tiefgehendsten entwicklungspsychologischen Konzeption  ausgearbeitet wird (vgl. hierzu auch Jantzen 1987, Kap. 5)

Und während er in all diesen Arbeiten sich vor allem mit Spinozas Erkenntnis der zweiten Art, also der analytischen Erkenntnis beschäftigt, verfolgt er nebenher das Problem der Erkenntnis der dritten Art, der intuitiven Erkenntnis, und führt es in der Arbeit über 'Imagination und Kreativität in der Kindheit' (1990), geschrieben 1930, näher aus.  Und erneut schwingt es mit in Vygotskijs letzter großer methodologischer Arbeit "Die Lehre von den Emotionen"

Und auch das Thema der "konkreten Psychologie", anskizziert 1929 (Vygotskij 1989), läßt ihn nicht los. Hinter dem Bewußtsein liegt das Leben. Der Mensch steuert sich selbst, das Sozium entwickelt das Gehirn. Und dies geschieht, so entsprechende Passagen in "Denken und Sprechen" (1972  S. 13 ff) in der Einheit von Verallgemeinerung und sozialem Verkehr und in der Einheit der affektiven und intellektuellen Prozesse: in jedem Gedanken ist "das affektive Verhältnis des Menschen zu der in diesem Gedanken dargestellten Wirklichkeit verarbeitet" (ebd.).

Daß dieser Gedanke für Vygotskij nicht nebensächlich ist, belegt die Kontinuität seines Denkens von der "Psychologie der Kunst", verfaßt 1926, bis zum "Spinoza"-Manuskript "Die Lehre von den Emotionen", das eine letzte methodologische Erkundung zum Zentrum des Dualismus unternimmt.

"Was freilich der Körper alles vermag, hat bis jetzt noch niemand festgestellt...", so beginnt das der "Psychologie der Kunst vorangestellte Zitat aus Lehrsatz 2, Teil III von Spinozas "Ethik". Und das Zitat fährt fort:  Aber, wird man sagen, aus den bloßen Gesetzen der Natur, sofern sie nur als körperliche betrachtet wird, können doch die Ursachen von Gebäuden, Gemälden und anderen Dingen dieser Art, welche bloß der menschlichen Kunst ihre Entstehung verdanken, unmöglich hergeleitet werden; und der menschliche Körper ist ja nicht imstande, einen Tempel zu erbauen, wenn er nicht im Geiste dazu bestimmt und angeleitet werde - Ich habe aber bereits gezeigt, daß die Gegner selbst nicht wissen, was der Körper vermag und was aus der bloßen Betrachtung seiner Natur abgeleitet werden kann"

Die Gegner, das ist Descartes. Und mit diesem Gegner und seinen Nachfolgern setzt sich Vygotskijs methodologische Studie "Die Lehre von den Emotionen" (1996) auseinander.

Die Lehre von den Emotionen ist das zentrale Gebiet der Krise der Psychologie. Hier hat sie sich am wenigsten entwickelt, hier ist der Dualismus von Körper und Geist am deutlichsten  wirksam. Ausgehend von der peripheren Theorie der Emotionen von James und Lange greift Vygotskij die Thematik auf. Diese Theorie bricht mit der alten Theorie, welche Emotionen als rein geistige Akte betrachtet. Emotionen sind körperliche Affekterscheinungen, die nicht von seelischen Bewegungen abhängig sind, so die Grundannahme. Daß diese Lehre eher einen Irrtum denn Wahrheit darstellt, daß die vermutete organische Basis viszeraler bzw. auch extraviszeraler, motorischer und propriozeptiver Art, auf der Basis zeitgenössischer Untersuchungen nicht haltbar ist, dies erarbeitet Vygotskij in den ersten vier Kapiteln des Buches. Die von James und Lange beanspruchte Wahrheit - als Maß ihrer selber und des Gegenstandes- so Spinozas Definition, erweist sich in Anbetracht der Stellung der empirischen Fakten als Irrtum. Und insoweit könnte die Untersuchung abgeschlossen sein. Vygotskij führt uns jedoch im folgenden in einer überaus diffizilen Analyse in  versteckte Ecken und Winkel des Problems. Was zunächst als vielfache Wiederholung im Text erscheint, ist das immer wieder erneute Aufnehmen zahlreicher Verbindungen des Denkens der Emotionspsychologie mit philosophischen Grundannahmen, die weit eher bei Descartes als bei Spinoza zu finden sind. Kapitel 5 und 6 der Arbeit entwickeln, nach Darstellung der physiologischen Widersprüche in den ersten Kapiteln, nunmehr die psychologischen Widersprüche der klinischen Erfahrung, also aus der Selbstwahrnehmung von Patienten, zur James-Lange-Theorie. So  tauchen bei der Vergabe von Adrenalin als entscheidender viszeraler Veränderung keineswegs die zu fordernden emotionalen Änderungen auf.  Und die Motorik erweist sich als relativ unabhängig vom emotionalen Prozeß: Sie verselbständigt sich in Lach- und Weinkrämpfen, oder ist bei bestimmten Krankheiten starr, obwohl die Emotionen reichhaltig bleiben.

Insofern hat die neue physiologische Theorie, die von Cannon und Bard entwickelte thalamische Theorie der Emotionen, alle Argumente für sich.

Ihr geht Vygotskij in den Kapiteln 7 - 9 nach.  Cannon und Bard legen zwar eine Theorie vor, welche die physiologischen Widersprüche zur James-Lange-Theorie ebenso berücksichtigt wie jene aus der klinischen  Psychologie. Das Problem ist jedoch, daß diese Theorie nicht aus dem Problemkreis herausgelangt, den  James und Lange festgelegt haben: Und dieser Problemkreis ist festgelegt durch die Grundfrage: Wie ist die "prototypische Idee der menschlichen Natur" beschaffen, die zugrunde liegt (ebd. S. 51)? Die Darstellung und Analyse der thalamischen Theorie der Emotionen führt zur Herausarbeitung einer historischen Grenze zwischen alter und neuer Theorie: Die Annahme des zentralen Ursprungs der Emotionen führt zur Annahme der doppelten Kontrolle von Willkür und emotionaler Wertung durch Großhirn und Thalamus. Damit ist der Dualismus von Emotion und Wille, vorher zwischen der Peripherie und der höheren geistigen Ebene angelegt, lediglich ins Innere des ZNS gelegt, bleibt aber als solcher bestehen. Dies führt zur Notwendigkeit, die philosophische Natur der James-Lange-Theorie und der ihr zeitgleichen bzw. folgenden Theorien zu erforschen.

Kapitel 10 - 12 untersuchen diesen philosophischen Hintergrund. Er ist im Cartesianismus zu finden. Die dualistische Konzeption des René Descartes von denkender und ausgedehnter Substanz ist die Kippfigur, gemäß der sich die zeitgenössischen Emotionstheorien gruppieren. Bezogen auf die idealistische/spiritualistische Seite der Emotionstheorien, also auf die Emotionstheorien der verstehenden Psychologie, hält Vygotskij fest: "Die Aufgabe des wahren Materialismus besteht nicht darin, die vom idealistischen Denken aufgeworfenen Probleme zu umgehen und vor ihnen den Kopf in den Sand zu stecken, indem man sie für nicht existent erklärt" (ebd. S. 81).

Das cartesische Wesen aller gegenwärtigen Emotionstheorie wird sichtbar, betrachtet man die Grundprobleme und die faktenorientierten Aspekte dieser Philosophie. Emotionstheorien können sehr wohl bestimmte Teile dieser Grundprobleme aufnehmen und andere negieren, trotzdem verbleiben sie dem cartesischen Denken verhaftet.  Vygotskij unterscheidet zwei Grundprobleme der cartesischen Sichtweise, die unter prinzipiellem Aspekt  bei vorwiegender Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der ausgedehnten Substanz als mechanistische Emotionstheorien, bei vorwiegender Betrachtung unter dem der erkennenden Substanz als spiritualistische Emotionstheorien angelegt sind. Unter dem Gesichtspunkt der Faktenorientierung untersuchen die ersteren den psychophysiologischen Mechanismus der Gefühlsreaktion, die letzeren das Entstehen der Emotionen auf zentrifugalem Wege (ebd. Kap. 11). Da der Cartesianismus die völlige Unvereinbarkeit beider Substanzen behauptet, ist er zur Einführung einer Wechselwirkung gezwungen, da der Mensch, das einzige Wesen ist, das körperlich und geistig, nicht bloß Maschine ist, und daher auch das einzige Wesen, das über Leidenschaften verfügt. Die Leidenschaften sind im Weltall daher das einzige Phänomen, das Körper und Geist verbindet. Die notwendige Wechselwirkung  schreibt  Descartes der Zirbeldrüse zu,  über welche die Lebensgeister vom Körper auf  die Seele und von der Seele auf den Körper wirken. Ist also der Körper ein Automat, und verfügt die Seele über absolute Willensfreiheit, sind Emotionen demnach passive Körperereignisse aber gleichzeitig auch Leidenschaften der Seele, so führt dies zu einer widersprüchlichen Einheit von spiritualistischer und mechanistischer Konzeption.

Die Analyse der Kapitel 13 bis 15 ist diesen Klippen des Cartesianimus und ihrer Auswirkung auf die Stellung und Beantwortung des psychophysischen Problems gewidmet. Die Postulierung der absoluten Willensfreiheit führt mit Notwendigkeit zum spiritualistischen Prinzip: Zur absoluten Macht des Willens über die Leidenschaft (S. 136). "Das Übernatürliche verfügt über das Natürliche" (ebd. S. 137), d.h. Emotionspsychologie ist nur als angewandte Metaphysik möglich, so Vygotskij mit Bezug auf die zeitgenössische Emotionspsychologie Bergsons.

Andererseits existiert die "sensualistische Klippe", an der die organischen Emotionstheorien von Descartes bis James und Lange zerschellen: "Wenn eine Emotion nur das Bewußtsein peripherer organischer Veränderungen ist, warum wird sie dann als Emotion wahrgenommen und nicht als Empfindung?" (ebd. S. 148); dies ist die Frage, die nicht beantwortet werden kann.

Dieses Kippen zwischen zwei Erklärungen, der mechanistischen und der spiritualistischen zeigt sich  ebenso wie in Descartes Arbeit über "Die Leidenschaften der Seele" auch innerhalb der einzelnen emotionspsychologischen Theorien, wie dies Vygotskij an zahlreichen, meist übersehenen Zusatzannahmen der jeweiligen Autoren herausarbeitet. Die cartesische Lösung behauptet: "Nichts Denkendes ist ausgedehnt und nichts Ausgedehntes denkt" (ebd. S. 162), aber der Widerspruch der menschlichen Existenz zu dieser Behauptung ist so offensichtlich, daß sich der Philosoph ihm fügt und das allgemeine Gesetz der absoluten Trennung für die menschliche Existenz außer Kraft setzt. Dies führt zur "grandiosen Katastrophe" des Cartesianismus, welche Vygotskij in Kapitel 16 und 17 darstellt. Kernpunkt seiner Analyse ist Descartes Brief an die schwedische Königin Christina, ein, so Kuno Fischer, "Kabinettstück" cartesischen Denkens. In diesem Brief konstatiert Descartes die völlige Beliebigkeit der möglichen Zuordnung von Leidenschaften der Seele und körperlichen Zuständen. Was bleibt ist die Konstatierung niederer Emotionen als "traurige Rudimente tierischen Lebens" und höherer als geistige Leidenschaften, die keine Emotionen, sondern klare Ideen sind, so z.B. wahrnehmbar in der Trennung von niederer und höherer Liebe. Dies führt letztlich zum "schrecklichsten Gedanken: zur Trennung von Bewußtsein und Leben ... Der Seele wird von Anfang an ein Punkt außerhalb des Lebens zugewiesen" (ebd. S. 174). Für die Wissenschaft von den Emotionen bleibt es, entweder die körperlichen Phänomene als real und die psychischen als Epiphänomene wahrzunehmen oder aber die psychischen als real und die körperlichen als Epiphänomene. Aber Descartes wäre nicht der große Cartesius, würde er nicht seine Lehre auch in dieser Frage vollenden. Grundleidenschaften werden im Sinn einer ersten Leidenschaft in den embryonalen Zustand des Körperlichen verlagert (Liebe, Haß usw.). Der Parallelismus umfaßt die Genesis der Ideen und der Leidenschaften "Die ursprünglichen Leidenschaften sind angeborene Merkmale der körperlichen Natur des Menschen, wie die grundlegenden Ideen eingeborene Besonderheiten seiner geistigen Natur" (ebd. S. 179).  Bestimmen wir die Emotionen als angeborene reflektorische Reaktionen, so Vygotskij, dann bleibt die Möglichkeit ihrer Entwicklung eine Illusion (ebd. S. 183) Daß sie dies nicht ist, dafür steht immer wieder Spinoza, dessen Rezeption in der spiritualistischen Psychologie noch zu analysieren ist, um die Flucht in die Metaphysik vermeiden zu können. Dem sind die letzten drei Kapitel der Arbeit gewidmet, von denen eines, das Kapitel 19  unter dem Titel "Spinoza und seine Lehre von den Gefühlen im Lichte der heutigen Psychoneurologie" bereits seit 1985 (c) in deutscher Übersetzung vorliegt.

Ich referiere diese Kapitel nicht mehr, sondern gehe zu Vygotskijs Problem über: Wie ist der Parallelismus des Descartes lösbar?

Spinoza, bei dem wir nachschlagen, stürzt uns zunächst in tiefe Verwirrung, denn Lehrsatz 2 aus dem III. Teil der "Ethik", aus dessen Beweis Vygotskij das der "Psychologie der Kunst" vorangestellte Zitat entnommen hat, lautet: "Der Körper kann die Seele nicht zum Denken und die Seele den Körper nicht zur Bewegung oder irgend etwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt) bestimmen". Also vollendeter Parallelismus und nicht einmal Wechselwirkung?

Nein, denn Spinoza hat vorweg die philosophischen Grundfragen nach dem Verhältnis von Sein (Ontologie), Denken (Erkentnistheorie) und Affekt (Ethik) anders beantwortet.

Das Sein ist eines - Antonio Negri (1981) wird später in seiner Spinozainterpretation den Begriff der Univozität  des Duns Scotus bemühen. Das Sein spricht mit einer Stimme, das gesamte Universum ist Ausdruck einer Substanz, und nicht, wie bei Descartes, gegründet in der Zweiteilung der Substanzen: erkennend und ausgedehnt. Diese Zweiteilung reißt Denken und Ausdehnung soweit auseinander, daß nur die Ursache des ganzen Universums, Gott, sie wieder zusammenfügen kann (so Spinoza in der Vorrede zu Teil V der Ethik). Für Spinoza sind Körper und Seele, Ausdehnung und Denken nicht zwei Substanzen, sondern zwei Attribute, zwei Ausdrucksformen, der einen Substanz. Diese Substanz ist Gott, ist die Natur. Denn mit dem spiritualistischen Gottesbegriff bricht Spinoza radikal.

Gott als Naturprozeß ist den Dingen immanent, nicht transient, nicht in einem verhimmelten Jenseits. Er existiert als schöpfende Natur jeweils in der geschöpften Natur der Gegenwart. Und in dieser Gegenwart als Ewigkeit existiert er auch als geistiges Wesen.

Die Form dieser Existenz ist die zwischen und in den menschlichen Individuen realisierte Liebe, von deren philosophischer Möglichkeit die "Ethik" spricht.

In der hebräischen Geschichte wird sie sichtbar mit der menschlichen Einsetzung der Gesetze Gottes (vor den staatlichen Gesetzen), so Spinoza im Theologisch-politischen Traktat (TTP, Kap. 16, S. 245). Und der Kern des Gehorsams gegenüber diesem von den Menschen eingesetzten, gesetzgebenden Gott ist eine einzige Pflicht: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!". Dieses zwischen den Individuen bestehende gefühlshafte Universum erinnert für die Religion an Vygotskijs Definition der Kunst als "soziale Gefühlstechnik" (1976, S. 7), aber auch an Georg Lukacs' (1987) Ersetzung der Religion durch Ästhetik. Dieses zwischen den Individuen bestehende soziale Gefühls-Universum wird von den Individuen als "moralische Gewißheit" (Spinoza TTP,Kap. 15, S. 227) erfahren. Dies ist nur möglich, so die Erkenntnistheorie Spinozas (Ethik, Teil II, LS 7), weil die Ordnung der Dinge und die Ordnung der Ideen sich (als Ausdrucksformen einer Substanz) entsprechen. Der Geist kann in der Beziehung zur Welt in Übereinstimmung mit dieser Freude erlangen (die wahre und adäquate Form dieser Übereinstimmung definiert Spinoza als Gemeinbegriffe). Die Tätigkeit des Geistes ist so beschaffen, daß er sich freut, wenn die Dinge seinen Ideen entsprechen und daß er leidet, wenn sie dies nicht tun. Da er aber als Attribut der einen Substanz zugleich auch unter dem Attribut des Körpers in der Welt existiert, muß das Verhältnis von erster Idee und erster Leidenschaft anders bestimmt werden, als Descartes es tut.

Entsprechend ist (Ethik, II, LS 3) "das Objekt der Idee, die die menschliche Seele ausmacht, der Körper oder ein gewisser wirklich existierender Modus der Ausdehnung und nichts anderes". Da die Modi Liebe und Begierde wie alle anderen Modi vom Attribut abhängig sind, entstehen sie mit der ersten Idee als einer Idee der entsprechenden oder nicht entsprechenden Zustände des Körpers und des Geistes: dies sind die Affekte (Ethik, II, Grundsatz 3). Der Zustand des Körpers ist aber von seinem Verhältnis zu anderen Körpern in der Welt und von der Tätigkeit des Subjekts in seiner Welt abhängig.

Ich breche hier die kurze Darstellung von Spinozas Grundgedanken ab, die für das gesamte Buch Vygotskijs "Die Lehre von den Emotionen" ersichtlich das Denkwerkzeug dargestellt haben. Ein Werkzeug, das selbst überprüft werden muß in seinen prinzipiellen und faktenorientierten Aspekten, wie dies auch bei Descartes der Fall war. Hierzu liefert die Entwicklung der Wechselbeziehungen gefühlshafter Aspekte durch Leont'ev (1979) einen wichtigen Beitrag, also das psychologische System der Verhältnisse von Motiv, Bedürfnis und Sinn, Affekt, Emotion und Gefühl. Und auch die Weiterentwicklung der modernen psychoneurologischen Theorie der Emotionen und vor allem des Körperselbst, (vgl. z.B. Sacks 1988, Rosenfield 1992, Damasio 1996) streben auf eine Lösung hin, zu der Spinoza ersichtlich die allgemeinen Grundlagen gelegt hat.

Aber: Von der Höhe Hegels sollte kein Urteil über die Physiologie Bechterevs oder Pavlovs abgegeben werden. Und das System der vermittelten Begriffe zwischen der Lehre Spinozas und einem zu entwickelnden psychologischen, aber auch biologischen und soziologischen Materialismus ist Ebene für Ebene und Begriff für Begriff zu erarbeiten. So wie Leont'ev (1967) es in dem zeitweise an Vygotskij ausgeliehenen Buch von Kuno Fischer über Descartes als Randbemerkung Vygotskijs fand. Fischer spricht von der notwendigen Umgestaltung des gesamten Systems der Begriffe in Anbetracht einer wissenschaftlichen Krise. Und Vygotskij notiert: "die Aufgabe der entfernten Zukunft".

 

Literaturverzeichnis:

Damasio, A.R.: Descartes Irrtum - Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List 1996, 2. Aufl.

Jantzen, W.: Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. I. Weinheim: Beltz 1987

Leont'ev, A..N.: Der Kampf um das Problem des Bewußtseins in der Entstehung der sowjetischen Psychologie. Voprosij psichologii 13 (1967) 2, 14 - 22

Leont'ev, A.N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin/DDR: Volk und Wissen 1979

Leont'ev, A.N.: Psychologie des Abbilds. Forum Kritische Psychologie Bd. 9, 1981, 5 - 19

Leont'ev, A.N.: Notes on Consciousness. Activity Theory  3,4 (1989) I - VIII; 5,6 (1990) I - VIII

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[1] Erschienen in: Lompscher, J. (Hrsg.): Entwicklung und Lernen aus kulturhistorischer Sicht. Marburg (BdWi-Verlag) 1996. (=Internationale Studien zur Tätigkeitstheorie 4/1) 51-65.