Gewalt ist der verborgene Kern von geistiger Behinderung[1]

 

Wolfgang Jantzen

 

 

„... die gesellschaftlichen Formen des Lebens zwingen das Gehirn, auf neue Weise zu arbeiten, sie lassen qualitativ neue funktionelle Systeme entstehen.“

 A.R. Lurija (2002, 58)

 

„Dummheit ist ein Wundmal.“

Horkheimer/Adorno

(1986, 274)

 

„Die Bereitschaft zur Grausamkeit steigt, je größer die Distanz zum mutmaßlichen Opfer empfunden wird.“

Bauman (1992, 169)

 

Vorbemerkungen

Die Überschrift behauptet nicht, dass durch die Außerkraftsetzung von Gewalt intellektueller Rückstand gänzlich verschwinde.

Meine Argumentation wendet sich jedoch gegen die vordergründig humanere Rede von „Menschen mit einer geistigen Behinderung“, die an die Stelle des substantivischen Modus „geistig Behinderte“ getreten ist. Im Unterschied zum adjektivischen Modus[2] „geistig behinderte Menschen“ setzt jene attibutive Rede die Transitivität von „behindern“ und „behindert werden“ gänzlich außer Kraft. Festgeschrieben bleibt - jenseits eines Euphemismus, der Behinderung zum bloßen Attribut erklärt - die Intransitivität des „Behindert-Seins“, die Verdinglichung des behinderten Subjekts, seine Loslösung aus dem Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse.

Eine relationale Sicht, die geistige Behinderung als Konstruktion und als Prozess der Konstruktion in sozialen Verhältnissen begreift, also als Einheit von „behindert sein“ und „behindert werden“ ist unumgänglich, denn die sogenannte Natur des Defekts selbst ist eine soziale Konstruktion. Menschliche Natur ist immer soziale Natur, das Gehirn als soziales Organ ist auf humane Weltbedingungen angewiesen, die es öffnen.

1. Geistige Behinderung und Gewalt

Gewalt ist nicht eindeutig definierbar, weder nach dem Pol des Gewalt erleidenden Subjekts, des Opfers, noch nach dem Pol der Gewalt ausübenden Personen und Verhältnisse, dem Pol des Täters. Gewalt ist immer Resultat komplizierter historischer Umstände, Situationen und Beziehungen zwischen beiden Polen. Das heißt aber nicht, dass darauf verzichtet werden kann, Gewalt genauer zu definieren. Denn wie jeder Begriff verweist auch der Begriff „Gewalt“ auf ein Netz begrifflicher Relationen, welches ihm erst seine präzisere Bedeutung gibt.

Um diese Relationalität aufzuzeigen, beginne ich mit zwei Definitionen.

Nach Johan Galtung (1975, 92) liegt Gewalt dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist, als ihre potentielle Verwirklichung“.

Im Gegensatz zu dieser gänzlich am Pol des Opfers angesiedelten Bestimmung definiert die klassische Definition von Hannah Arendt (1970) Gewalt durch die Verfügbarkeit von Mitteln. Im Unterschied zur Macht, die sich auf einen Prozess der Macht-Übertragung von Vielen auf Wenige gründet, kann Gewalt notfalls völlig auf diese Ermächtigung verzichten. „Macht braucht keine Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften schon immer inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität“ ... „sie stammt aus dem Machtursprung, welcher mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt“ (ebd., 53). Sie rechtfertigt sich mit Bezug auf die Vergangenheit, während Gewalt sich durch einen Zweck rechtfertigt, der in der Zukunft liegt: „Gewalt kann gerechtfertigt, aber niemals legitim sein“ (ebd.).

Warum dies so ist, erfährt eine tiefere Klärung in Giorgio Agambens Studie zu „Homo sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben“ (2002). Staatstheoretisch betrachtet liegt der Kern von politischer Herrschaft in dem Recht des Souveräns, des Herrschers, den Ausnahmezustand auszurufen. Zur Grundlage moderner Staaten gehört neben dem allgemeinen, gesetzlichen Machtmonopol des Staates zugleich die Ermächtigung, durch einen legitimen Akt aus der Legitimität herauszutreten, jenseits der Gesetze befugt zu sein, absolute Gewalt zum Erhalt der Gesetze anzuwenden. Der Herrscher steht folglich zugleich im Gesetz und außerhalb des Gesetzes.

Der Ausnahmezustand als offener oder verdeckter Krieg nach außen oder innen[3] verwandelt jedoch gleichzeitig die Akteure. Besonders einprägsam zeigt sich dies in der experimentellen Gestaltung einer Situation, wo es bei nach Zufall ausgewählten StudentInnen, eingeteilt in eine Gruppe von GefängnisinsassInnen und GefängniswärterInnen, zu einer derartigen Eskalation von Gewalt kommt, dass dieses Experiment, das Stanford-Prison-Experiment von Zimbardo vorzeitig abgebrochen werden muss[4].

Eingebunden in ein Gefüge von Herrschaft und Gewalt, verändert die Situation des Krieges Täter und Opfer. Indem sich der Gewalttäter, der Soldat, der Wärter usw. so verhält, wie er sich verhält, erfolgt auf Seiten der Opfer eine tiefgehende Verstörung, ein „Betrug an dem, was recht ist“ (Reemtsma 1996, 102 mit Bezug auf Shay 1998).

Dies zeigt sich eindrucksvoll an jeglichen Opfern schwerer Gewalt, seien es KZ-Haft, Folterung, das Überleben der Atombombe, schwere physische und sexuelle Gewalt gegenüber Frauen und Kindern usw. (vgl. Krystal 1968, Niederland 1980, Millet 1993, Herman 1993) mit Folgen in den Familien und in der zweiten und dritten Generation (vgl. Francesconi 1983).

Erlittene schwere Gewalt führt zu einem Dauerdilemma der nicht mehr gelingenden psychischen Verarbeitung, einer Störung des Urvertrauens, zu einer ins Fundament der Persönlichkeit und des Charakters reichenden ebenso Integration wie Abwehr der Gewalt. In der Regel fühlt sich das Opfer, trotz Kenntnis des Täters, selber schuldig: Bei KZ- Überlebenden oder Hiroshima-Opfern allein schon deshalb, weil es überlebt hat und andere gestorben sind. Oder es schreibt sich selbst Schuld an der Misshandlung zu, z.B. in symbiotischen Beziehungen. Anderenfalls zerfiele einerseits jener Halt durch Bindung, den das Opfer zur Erhaltung des Selbst gegen die Gewalt benötigt; es sucht diesen dann, so in der Situation misshandelter Frauen oder Kinder, in der Person des Täters. Anderseits lässt die Selbstattribuierung, schuld an der Misshandlung zu sein, die Möglichkeit einer Regorganisation des Denkens und die Möglichkeit einer Veränderung der Situation durch die „Besserung“ des Opfers zu, gibt dem Opfer eine Perspektive der Veränderung.

Aber auch ausgeübte schwere Gewalt verändert die Täter. Zumindest werden jene, die nicht über die „hinreichende Distanz“ zum Opfer verfügen[5], unter der Bedingung der Gewaltanwendung tiefgreifend verändert. Der gegen sie gerichtete, konkrete Widerstand der Opfer erscheint ihnen, so das Ergebnis von sozialpsychologischen Studien zu Vietnam-Veteranen, als „Betrug an dem, was recht ist“, „ausgelöst durch einen Feind, der sich, tatsächlich oder in der Phantasie des Soldaten, nicht regelrecht verhält.“ (Reemtsma a.a.O.) Je näher der Kontakt zur unmittelbaren Gewaltsituation, desto geringer die Abwehrmechanismen bei Tätern und Opfern, das bisherige Geschehen folgenlos in ihre Persönlichkeit integrieren zu können. Bei allen Unterschieden im Detail kommt es zu schweren Angststörungen, Albträumen, psychosomatischen Störungen usw., zu Bewältigungstechniken der Abspaltung von Erinnerungen sowie Anteilen der eigenen Person einerseits, zu Hyperaktivität oder schwerer Depression bzw. wechselweise zu beiden andererseits und zum immer erneuten Versagen dieser Abwehrmechanismen durch einschießende Erinnerungen (vgl. Krystal 1968, Herman 1993 sowie zur Situation der Vietnam-Veteranen Goodwin 1987). Dissoziation, Überaktivität bzw. Depression sowie Intrusion, d.h. einschießende Erinnerungen in Form von Flashbacks, sind die Preise für das psychische Überleben, zusammengefasst unter dem psychiatrischen Titel des Posttraumatischen Stress-Syndroms (PTSD).

Was hat dies aber alles mit geistiger Behinderung zu tun, von der ich bisher überhaupt noch nicht gesprochen haben?

Ich nähere mich dieser Frage erneut von beiden Seiten, vom Pol des Subjekts als Opfer von Gewalt und vom Pol gesellschaftlicher Verhältnisse als Ort der Realisierung von Gewalt.

Dietmut Niedecken (1998) hebt m.E. zurecht hervor, dass geistige Behinderung nicht angeboren ist, sondern durch soziale Interaktionsverschränkungen erst nach der Geburt entsteht. Erst die psychische Trennung von Körper und Geist in der nachgeburtlichen Sozialisation schafft die Bedingung der Möglichkeit der „geistigen Behinderung“, transitiv gedacht, als soziale Herstellung einer in der Regel der Biologie zugeschriebenen Eigenschaft. Ohne die organischen Ebenen zu übersehen oder zu missachten, ist die sozial gestörte mimetische Kompetenz der Mutter, der Nachbarschaft, der Gemeinschaft, der Gesellschaft die Entscheidende Voraussetzung für die soziale Konstruktion von geistiger Behinderung. Im Kern dieser Störung stehen phantasmatische Konstruktionen von Behinderung bzw. von behinderten Menschen: z.B. das neugeborene Kind mit Down-Syndrom oder einer anderen sichtbaren biologischen Differenz als Monster[6]. Bewusste und unbewusste Tötungswünsche sind erste emotionale Reaktionen des sozial vermittelten Schreckens und im Alltag des Kindes nur allzu präsent bis hin zu Szenen in der Öffentlichkeit, wie ich sie dem Buch von Niedecken entnehme:

„Eine Mutter wartet mit einem geistig behinderten Kind im Sportwagen an der Bushaltestelle. Als der Bus kommt, hilft ein freundlicher Helfer der jungen Mutter, den Wagen in den Bus zu heben. Drinnen erst erkennt der Helfer, dass er ein behindertes Kind getragen hat und mit den Worten »so ein Kind fährt nicht in einem öffentlichen Bus!« trägt er den Wagen eigenhändig wieder hinaus. Die Mutter hinterher, die Bustüren schließen sich, der freundliche Helfer fährt in dem Bus davon.“ (ebd. 54.

Können wir, dürfen wir von jenem anderen Zitat von Horkheimer und Adorno ausgehen, das Niedecken in den Kern ihrer Überlegungen stellt, infolge derer geistige Behinderung vor allem das geistig Behindert-Werden innerhalb einer gesellschaftlichen Institution „geistige Behinderung“ bedeutet? Aus dem Text von Horkheimer und Adorno zitiert sie:

„Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken. Beides ist im Ursprung nicht zu trennen“ (Niedecken a.a.O. 59).

Von dem Soziologen Bourdieu (vgl. 1998 a) wissen wir, dass soziales Leben sich in Feldern organisiert, die spezifische Spielregeln beinhalten. Einen Mathematiker kann man (nach den Regeln des mathematischen Feldes) nur mit einem mathematischen Beweis ausstechen. Archimedes nach dessen Äußerung „Störe meine Kreise nicht!“ mit einem Schwert zu töten, ist nicht nur ein beklagenswertes historisches Ereignis, sondern in dieser Hinsicht ein „Kategorienfehler“ (Bourdieu 1998 b).

Geistige Behinderung sei bloßer Natur geschuldet, dieser Behauptung kann und muss - bei aller beindruckenden Evidenz von Niedeckens sozialwissenschaftlicher, psychoanalytischer und psychotherapeutischer Beweisführung - mit Mitteln der Naturwissenschaften begegnet werden. Natürlich ist dies im Rahmen meines heutigen Themas nur in äußerster Kürze möglich, so dass ich auf Ausführungen an anderer Stelle (vgl. Jantzen 1999 a,b, 2001 a,b, 2003 a) sowie weitere Literatur verweisen muss und mich hier auf die Wiedergabe einer anderen Orts vorgetragenen These beschränke (Jantzen 2001 b).

Die englischen Neurowissenschaftler Trevarthen und Aitken (1994, 1998, Aitken und Trevarthen 1997) gehen davon aus, dass mit der ersten Realisation von Stammhirnfunktionen im sich entwickelnden Embryo zwischen der fünften und achten Woche ein intrinsisches Motiv-System (IMF) entsteht (1994, 613)[7], das sich später mit einem emotionalen Ausdruckssystem der Mund- und Gesichtsmotorik (EMS) verknüpft (bedingt durch das Einwachsen der Gehirnnerven). Dieses IMF beinhaltet nach Auffassung der Theorie ein virtuelles Selbst sowie einen virtuellen Anderen. Es zielt auf die Existenz eines freundlichen Begleiters.

Wie aus Tierversuchen belegt, haben derartige retikuläre, motivbildende Systeme hohe Bedeutung für die Realisierung neuronaler Wachstums- und Ausleseprozesse der höheren Hirnsysteme. Sie gehören zu inneren Zwängen (constraints) der neuronalen, darwinistischen Selbstorganisation des Gehirns. In funktioneller Hinsicht realisieren sie die Raum-Zeit-Koordination der psychischen Prozesse innerhalb des Körperselbst nach Maßgabe und Integration der räumlich-zeitlicher Organisation des Körpers (nervale Muster in der Bewegung unterschiedlicher Körpersysteme).

Diese räumliche und zeitliche Regulation wird nach Annahmen moderner Bindungstheorien und deren neurophysiologischer Grundannahmen (vgl. Field 1996) feldabhängig durch zeitliche Abstimmung und reziproke Erwiderung im Austausch mit der Bezugsperson realisiert. Entsprechende Abstimmungsmuster sind bereits vorgeburtlich festzustellen, so z.B. um die 20. intrauterine Woche als feine Abstimmungen zwischen Bewegungsmustern des Fetus und Kontraktionen der Uteruswand. Wir finden bis weit in den vorgeburtlichen Raum hineingehend eine feldabhängige Konsolidierung psychischer Prozesse, ein „attuning“ in zeitlichen – und nach der Geburt zunehmend sozialen – Mustern als Kern jeglicher Bindungsprozesse (attachement).

Misslingendes oder fehlendes „attachement“, verstanden als gestörter feldabhängiger Austausch, als misslingender Dialog, schlägt sich nieder in einer Überaktivierung des Frontalbereichs der rechten Großhirn-Hemisphäre. Die Forschungsgruppe um Tiffany Field konnte derartige Veränderungen bereits bei Neugeborenen nachweisen (Field et al. 2002). Diese Überaktivierung steht im Kern einer veränderten Wirkungsgradeinstellung des Zentralnervensystems unter Bedingungen von Stress und Traumatisierung (Schore 1994, 2001 a, b, 2002). Sie entsteht immer dann, wenn der innere Übergang, das „switching“ zwischen verschiedenen emotionalen Zuständen (sympathischer Erregung, parasympathischer Beruhigung) nicht durch die in den Bindungsprozess einbezogenen Personen vermittelt wird.

Aus dieser Sicht können die von Spitz beschriebenen, extrem hospitalisierten Säuglinge als so schwer traumatisiert verstanden werden, dass sie unter die Diagnose des Posttraumatischen Stress Syndroms (PTSD) zu subsumieren wären. Vergleichbare Störungen finden sich bei allen Säugetieren, wie es Harlows Affenversuche ebenso demonstrieren, wie das schwer gestörte Verhalten misshandelter Tiere, von Zoo-Tieren usw. (vgl. Bronfenbrenner 1971). Bei Menschen wie Tieren kommt es hier zu massiven Umbildungen im Gehirn, welche zu Zellverlust in Systemen führen, die dem Gehirn seine Raum-Zeit-Koordinaten sichern (vgl. Edelman und Tononi 2000): Hippocampus (biographisches Gedächtnis), Basalganglien (Raum-Zeit-Koordination der Handlung), möglicherweise Kleinhirn (zeitliche Flüssigkeit) sowie Gyrus cinguli als Ort emotional-motivationaler Bewertung des Übergangs von Gedächtnisinhalten in das Arbeitsgedächtnis.

Jedes Weltereignis wird – erfahrungsbezogen (!) - unter emotionalem Aspekt wahrgenommen, bevor es kognitiv identifiziert wird. Realisiert wird dieses schnelle und flexible emotionale Wahrnehmungsgedächtnis auf der Basis der Amygdala, die mit den schon erwähnten Systemen wesentliche Teile des limbischen Systems, also des zentralen Wertbildungssystems, bildet. Die physiologische und funktionelle Struktur dieser Systeme ist bei Depressionen ebenso wie bei PTSD schwer verändert (vgl. Davidson et al. 2002, Schore 2001 b, 2002 b). Diese Schädigungen sind nicht irreversibel, da der Hippocampus, also der Ort über den das biographische Gedächtnis aufgebaut wird, der bisher einzig bekannte Ort des erwachsenen Gehirns ist, wo auf der Basis von Stammzellen neue Zellen entstehen können (Kemperman und Gage 1999). Dies geschieht unter den Bedingungen wiederhergestellter sicherer Bindung, obgleich die Erfahrungen des emotionalen Gedächtnis letztlich unauslöschbar bleiben.

Wenn dies alles auch bei schwerer geistiger Behinderung unterstellt werden kann und darf, so müssten sich auch hier verschiedene Belege für eine vorrangig soziale Veränderung des Gehirns anführen lassen.

Unbestreitbar ist, dass sehr schwer geistig behinderte Menschen in besonderer Weise schwerer Gewalt ausgesetzt sind (vgl. Turnbull III 1988). Sie unterliegen weit eher aversiven Behandlungsverfahren, sind weit häufiger institutionalisiert, die MitarbeiterInnen verwenden ihnen gegenüber weit eher Techniken, und oft solche, deren Erfolg lediglich vom Hörensagen bekannt ist, wo also der Zweck die Mittel heiligt, und dies zumeist mit „einem Hauch von Fanatismus“ (ebd. 375). Gleichzeitig steigen mit der Schwere des Behinderungsgrades körperliche Angriffe gegen Andere, selbstverletzendes Verhalten und destruktives Verhalten. Nach den Ergebnissen von Jacobson (1983; zit. nach Wendeler 1993, 144; Zahlen eigene Berechnung aufgrund der Grafik) dominieren bei mäßiger geistiger Behinderung (moderate mental retardation) körperliche Angriffe mit 8% gegenüber selbstverletzendem Verhalten (SVV) mit 3% und destruktivem Verhalten mit 2,5%. Bei schwerer geisitger Behinderung (severe mental retardation) bleiben diese Verhältnisse erhalten, nur der Prozentsatz verdoppelt sich in etwa: Körperliche Angriffe 13%, SVV 6%, Destruktives Verhalten 5%, bei sehr schwerer geistiger Behinderung (profound mental retardation) erhöht sich der Prozentsatz körperlicher Angriffe und destruktiven Verhaltens nur noch leicht, exponentiell erhöht sich jedoch das selbstverletzende Verhalten auf nahezu das Dreifache: Körperliche Angriffe 16%, SVV 17% (!), Destruktives Verhalten 7%. An anderer Stelle (Jantzen 1999 b) habe ich darauf verwiesen, dass nur bei einer Vergleichsgruppe – hier gänzlich ohne vorherige Gehirnpathologie - vergleichbare Anstiege in dieser vorgeblich nur für geistige Behinderung essentiellen Trias (Wendeler a.a.O.) stattfinden – dies ist bei den Opfern schwerer, insbesondere auch sexueller Gewalt und insbesondere bei Kindern der Fall.

Aufmerksam machen sollten erste Befunde einer Entwicklungsneuropsychologie geistiger Behinderung, dass bei verschiedenen Syndromen jeweils Hippocampus und Kleinhirn auffällige Befunde aufweisen und auch die anderen genannten subkortikalen und kortikalen Orte in der Regel mit ihm Spiel sind (Basalganglien bei Stereotypien und SVV, Amygdala bei Autismus usw.; vgl. u.a. Pulsifer 1996, Lewis 1996, Trevarthen et al. 1998).

Wenn meine bisherigen Überlegungen richtig sind und zudem der außerordentliche hohe Anteil von depressiven Inszenierungen bei geistiger Behinderung, auf den Gaedt in verschiedenen Publikationen aufmerksam gemacht hat, möglicherweise eher auf eine Verstellung der Stress-Bewältigungsmechanismen in Richtung PTSD verweist, als in Richtung einer klassischen Depression (vgl. meine ausführliche Auseinandersetzung hiermit; Jantzen 2001 c), dann müssten sich weitere Belege in diese Richtung finden lassen.

Obwohl es noch sehr wenig Forschung in dieser Richtung gibt, zeigen sich klare Zusammenhänge.

So macht Strickler (2001; 465) in einem unlängst erschienenen Sammelreferat zur Interaktion zwischen geistiger Behinderung und familiärer Gewalt darauf aufmerksam, dass in einer Untersuchung von Craine et al (1988) 51% von 105 PatientInnen, die an ein staatliches Hospital aufgrund der Doppeldiagnose „geistige Behinderung“ und „Verhaltensstörung“ verwiesen wurden, sexuellen Missbrauch berichteten. Von diesen erfüllten 66%, also ein Drittel der Gesamtstichprobe, alle Kriterien für die Diagnose PTSD, obwohl keine(r) der Überwiesenen diese Diagnose erhielt.

Eine Studie von Ryan (1994) referiert erste Untersuchungsergebnisse an einer Gruppe von 51 Personen mit Entwicklungsstörungen (developmental disorders), welche die Kriterien von PTSD erfüllen; ansonsten ist noch nahezu nichts an einschlägiger Literatur zu finden.[8]

Auf einen der Studie von Craine et al. vergleichbaren Zusammenhang von Doppeldiagnose und sexueller Gewalt macht auch Sinason (1993) aufmerksam. Von insgesamt 200 an die Tavistock-Klinik überwiesenen Kindern (N=40) und Erwachsenen (N = 160) mit geistiger Behinderung und emotionalen Störungen waren 70% sexuell misshandelt worden (unter ihnen doppelt soviel [67%] Frauen wie Männer [33%]). Ähnliche Belastungsquoten mit PTSD dürfen hier vergleichbar unterstellt werden.

Aber auch jenseits der sexuellen Gewalt, der geistig behinderte Menschen familiär und institutionell weitaus häufiger ausgesetzt sind (vgl. Literaturüberblicke bei Reynolds 1997, Nosek und Howland 1998, National Center for Injury Prevention and Control 2002, Plaute 2002) sind die Indikatoren eindeutig.

So zeigt eine Arbeit von Chaney (1996) bei einer Teilgruppe von 35 sehr schwer geistig behinderten Menschen (profound mentally retarded) aus 163 institutionalisierten Erwachsenen mit „Entwicklungsstörungen“ jeweils sehr deutlich erhöhte Stressindikatoren. Blutdruck, Herzschlag, Atemfrequenz, Kernkörpertemperatur, Änderungen in der peripheren Temperatur verweisen auf sehr hohe situative Stressbelastungen, insbesondere in Situationen, in welchen diese Personen klinisch untersucht oder angestarrt wurden. „Diese Reaktionen resultieren aus der Unsicherheit von Personen, deren Behinderungen (disabilities) es ihnen unmöglich machen, sich an wahrgenommene Bedrohungen anzupassen“, so die Zusammenfassung des Autors (ebd. 305).

Erste Untersuchungen von hormonellen Markern zeigen bei Gruppen schwer geistig behinderter Menschen ebenfalls deutliche Veränderungen in der Wirkungsgradeinstellung der Stress-Bewältigungsmechanismen, alles Indikatoren für die Einwirkung von Gewalt.

Wir müssen daher aus medizinischen [und neurowissenschaftlich zwingenden (!)] Gründen von der Annahme Abstand nehmen, dass es organische Beeinträchtigungen gäbe, die zwangsläufig und unmittelbar zu geistiger Behinderung führen. Die hohen Prävalenzraten spezifischer emotionaler und Verhaltensstörungen sowie ihre Verteilungsmuster bei schwerer geistiger Behinderung sprechen ebenso wie zahlreiche klinische Erfahrungen (vgl. Niedecken 1998, Sinason 2000, Jantzen 2001 a, Jantzen und Schnittka 2001, Jantzen und Mertens 2001) – dafür, dass bei allen Schweregraden von Behinderung und auf allen Niveaus von Behinderung Gewalt einen höchst wirksamen Einfluss auf die Entwicklung hat.

Wird die vom Opfer erfahrene Gewalt durch Dialog und Anerkennung außer Kraft gesetzt, so zeigen sich auch bei schwerer Behinderung erstaunliche Kompetenzen und Entwicklungen, ein Sachverhalt der sich allgemein auch in folgender Feststellung von Fischer und Yan (2002, 301) andeutet. „In der Forschung mit missbrauchten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen [...] entwickelten die Individuen ihr altersnormales optimales Niveau, wenn sie von ihrer eigenen Perspektive aus beurteilt wurden.“

Wieso aber wurde und wird diese Gewalt bis heute nicht sichtbar? Kehren wir zurück zu Agamben (a.a.O.) und zum Wesen des Ausnahmezustandes: Nicht nur der Herrscher steht gleichzeitig im Gesetz und außerhalb des Gesetzes, sondern auch der Verbannte. Er wird auf bloßes Leben reduziert im Unterschied zum politischen Leben. Im antiken Rom geschah dies unter der Rechtsfigur des Homo sacer. Der Homo sacer ist der bürgerlichen und politischen Rechte gänzlich beraubt, reduziert auf das nackte Leben, das zugleich heilig ist. Es ist ausgegrenzt, rechtlos, darf aber nicht getötet werden.

Dieser seltsame Widerspruch löst sich auf, wenn wir den Kriegszustand betrachten, ebenso den äußeren wie den inneren Krieg. Gerade die Reduktion auf das bloße Leben, die Kern der modernen Biopolitik ist, so Agamben über Foucault hinausgehend, spiegelt über die Existenz des nackten Lebens die vorgebliche Wirksamkeit universeller Menschenrechte. Diese werden, gerade weil sie keine Bürgerrechte sind, immer dann außer Kraft gesetzt, wo ihre Anwendung dringend notwendig wäre (so z.B. bezogen auf den Bürgerkrieg in Ruanda). Und immer dann werden die Menschenrechte als Grundlage „humanitären Handelns“, also als Appell an die „Heiligkeit des Lebens“, bemüht, wo ihre vorherige politische und bürgerrechtliche Anwendung notwendig gewesen wäre. Dies geschieht zunehmend in einer Zone, die zugleich im Gesetz und außerhalb des Gesetzes ist, dem Lager, das damit als Prototyp der Biopolitik der Moderne gelten kann. Der Kern dieser Blickweise ist es, soziale Ungerechtigkeit auf Natur oder Schicksal zu reduzieren (indem z.B. die Rede geführt wird von „Stammeskämpfen“ in Ruanda, statt von Folgen imperialistischer und kolonialer Politik, in welche die ehemaligen Kolonialmächte nach wie vor verstrickt sind; vgl. Kapuściński 1994, Behrend und Meillassoux 1994).

Die Phänomenologie dieser „Biopolitik“ arbeitet Foucault (1993) wie folgt heraus:

Mit der Diagnose einer Krankheit oder Abweichung aufgrund körperlicher Zeichen findet neben der Individualisierung zugleich eine Massenkonstituierung statt. Die Träger dieser Zeichen werden unter dem Aspekt der Behebbarkeit der Krankheit oder Abweichung als Kostenfaktor betrachtet. Die kostengünstige Behandlung wird zur Voraussetzung allgemeinen Wohlstandes.

Für Foucault geht es im Kontext der Etablierung der Bio-Macht keineswegs nur um die Tötung, sondern auch um all das „was zu einem indirekten Tod führt: jemanden der Gefahr des Todes aussetzen, das Todesrisiko für bestimmte Menschen vervielfachen oder einfach den politischen Tod, die Vertreibung, die Zurückweisung usw.“ (1993, 43). Die Umwandlungen einer individuenbezogenen Kategorie in eine solche bevölkerungspolitischer Steuerung bezeichnet Foucault hierbei als „Rassismus“. Dieser bildet das Herz der Biopolitik.

Insofern spricht die Parallelsetzung von Rassismus, Sexismus und Disabilismus (engl.: disabilism = Behindertenfeindlichkeit), welche Plaute (2002) im österreichischen Gewaltbericht vorlegt, zurecht diese Dimension an, verhindert aber durch diese Trennung zugleich ihre einheitliche Wahrnehmung. Der politische Kern dieses Problems ist die Außerkraftsetzung von bürgerlichen Rechten aufgrund vorgeblich biologischer Zeichen. Dass auch eine aktive Interessenvertretung geistig behinderter Menschen hiervon zunächst nicht frei ist, zeigt die Selbstkritik von Inclusion International[9] auf der Konferenz von Delhi 1995.

Artikel 7 der Erklärung der Rechte geistig behinderter Menschen durch die UNO im Jahre 1971, entstanden unter Beratung durch die Vorgängerorganisation von Inclusion International, lautet:

"Wenn geistig Behinderte wegen des Schweregrades ihrer Behinderung unfähig sind, alle ihre Rechte in bedeutsamer Weise auszuüben, oder wenn es notwendig werden sollte, einige oder alle diese Rechte zu beschränken oder abzuerkennen, muss das für die Beschränkung der Aberkennung dieser Rechte angewandte Verfahren geeignete Schutzmaßnahmen gegen jede Form von Missachtung enthalten".

Die körperlichen und psychischen Zeichen geistiger Behinderung können und dürfen demnach grundsätzlich einen Akt der Außer-Kraft-Setzung der Menschen- und Bürgerrechte legitimieren. Diese Position wird 1995 korrigiert: "This is not the position and attitude of Inclusion International any longer" (zit. nach Lachwitz 1998, 9). Vielmehr gilt: "Alle Menschen mit einer geistigen Behinderung sind Bürger ihres Landes, die nicht weniger als ihre Mitbürger ein Anrecht auf Berücksichtigung, Respekt und gesetzlichen Schutz haben." (ebd.)

Zusammengefasst: "Jede Person mit einer geistigen Behinderung ist ein menschliches Wesen, welches das Recht auf Respekt für seine menschliche Würde genießt. Alle geistig behinderten Personen haben die gleichen fundamentalen, bürgerlichen und politischen Rechte wie andere menschliche Wesen. Menschen mit einer geistigen Behinderung haben besondere Bedürfnisse und können unter bestimmten Umständen der Assistenz und des Schutzes gegen Missbrauch, Vernachlässigung usw. bedürfen. Es ist jedenfalls nicht notwendig, diese Erfordernisse zu treffen, indem man basale Menschenrechte entsprechend der geistigen Behinderung einer Person beschränkt oder verneint." (ebd.)

Geistige behinderte Menschen dürfen demnach in keinem Fall auf das bloße Leben reduziert werden, haben in jedem Falle das Recht, alle Rechte zu haben. Sie stehen damit auch unter dem Schutz einer Reihe von UN-Konventionen, insbesondere auch der Anti-Folter-Konvention, soweit Lachwitz (a.a.O.) unter Anwendung auf das Beispiel der Fehlplatzierung in psychiatrischen Einrichtungen.

Aber: Hätte dieser Schutz nur dort in Kraft zu treten? Wie ist es mit der alltäglichen Bestimmung des Lebens geistig behinderter Menschen durch Gewalt? Denn sie stehen ein Leben lang unter dem Schatten von direkter und struktureller Gewalt, von Ausgrenzung und Ächtung. Inwieweit entsprechen die Einrichtungen für geistig Behinderte eher dem Typ des Lagers als einem Ort realer Hilfe? Und was ereignet sich außerhalb dieser Einrichtungen als massives Einstürmen von Gewalt auf sie und ihre Familien?

„Die Mitteilung der Prognose und Diagnose“ – so Elbert (1982, zit. nach Niedecken a.a.O., 37) – stellt „die Schlüsselstelle für die Formation der >geistigen Behinderung< dar (...) Sie zerstört schlagartig die wechselseitige Beziehung zwischen Mutter und Kind. Dieses Trümmerfeld wird nun Ausgangspunkt für die spezifische, von der Prognose beherrschte Sozialisation des >Geistigbehinderten<.“

2. „Trümmerfelder“ im Mikro-, Meso-, Exo- und Makrobereich „geistiger Behinderung“

 

Gemäß Bronfenbrenners „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ (1989) lassen sich konzentrische, ineinander eingebettete soziale Sphären beschreiben, aus denen heraus das Verhältnis von Subjekt und Welt begriffen werden kann: Der Mikro-Bereich des interindividuellen, dialogischen und kommunikativen Austauschs in den primären Beziehungen insb. der Familie, der Meso-Bereich des weiteren sozialen Umfelds (Nachbarschaft, Kindergarten, Schulklasse), der Exo-Bereich, in den die betreffende Person vielleicht nie eintritt, aber der ihr Leben beeinflusst (Sozialamt, Gesundheitsamt, Schulbehörde usw.) und schließlich der Makro-Bereich der gesellschaftlichen Prozesse als Ganzes.

Auf all diesen Ebenen will ich im folgenden aus einer überwältigenden Vielzahl von stützenden Daten ausgewählte, empirische Befunde – immer gedacht im Kontext von ordnenden Theorien[10] - darstellen, die als weitere empirische Basis in meine theoretischen Behauptung eingehen, Gewalt sei der verborgene Kern geistiger Behinderung.

Mikrobereich:

Transaktionen zwischen geistig behinderten Kindern und ihren Bezugspersonen sind im Vergleich zu nicht behinderten Kindern weit häufiger gestört. Geistig behinderte Kinder sind in der Regel Stressoren für ihre Familien, welche die ökonomischen, emotionalen, sozialen und kognitiven Reserven angreifen. Besonders verwundbare Kinder sind folglich einem sehr viel höheren Risiko emotionaler Verwundung durch eine auf sie als offene oder strukturelle Gewalt einwirkende Situation ausgesetzt.

Für die Mutter-Kind-Interaktionen bei geistig behinderten Kindern fassen Zigler und Hodapp (1991, 40 ff.) die Forschungslage wie folgt zusammen:

Einerseits simplifizieren Mütter ihre Sprache und modifizieren ihr Verhalten, um sich dem Niveau des Kindes anzupassen, andererseits bilden sie ein soziales Gerüst. Es kommt zu einer "Interaktion mit Zug"; die Kinder werden "Lehrlinge" ihrer eigenen Entwicklung durch die Interaktionen mit ihrer Mutter. Mütter von verschiedenen Gruppen behinderter Kinder sind eher didaktisch, initiieren öfters und kontrollieren häufiger Interaktionen. Bei dieser Gratwanderung, immer die gesellschaftliche Norm im Rücken, ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass intrusive Verkehrsformen entstehen. Die Mütter sind in ihren Reaktionen zu schnell, beachten zu wenig das Orientierungsverhalten des Kindes, stellen die zweite Frage, bevor das Kind die erste beantwortet hat usw. (ebd.)

Vergelichbar stellten Harris et al. (1996) fest, dass Eltern von Kindern mit Down-Syndrom im Vergleich zu einer Kontrollgruppe deutlich mehr Zeit darauf verwendeten, die Kinder auf ein vorgegebenes Spielzeug zu orientieren oder bei Verlust der Aufmerksamkeit wieder einen Aufmerksamkeitswechsel auf dieses Spielzeug zu erreichen, als sie bei selbst gewählten Spielsachen zu unterstützen. Der Gewinn im Sprachverständnis korrelierte jedoch direkt mit der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit bei dem vom Kind selbst gewählten Spielzeug. Negativ wirkten sich die Wegverlagerung vom selbst gewählten Spielzeug und ein zu schneller Aufmerksamkeitswechsel aus. Bei nichtbehinderten Kindern erweiterte sich das Sprachverständnis auch bei rascherem Aufmerksamkeitswechsel und bei Aufmerksamkeitserhalt bezogen auf das von der Mutter gewählte Vorgehen.

Was intrusiv ist (penetrierend und normierend; s.u.) hängt also von den jeweiligen Kompetenzen bzw. der jeweiligen Verwundbarkeit des Kindes ab.

Hinzu kommt, dass Kinder mit geistiger Behinderung weitaus häufiger offener Gewalt in der Familie ausgesetzt sind. Das Risiko des sexuellen Missbrauchs ist familiär und außerfamiliär deutlich höher. Es ist insgesamt 1,5 mal so hoch wie bei nichtbehinderten Menschen. Für geistig behinderte Mädchen ist es 2,5 mal so hoch wie bei Jungen. Für Jungen wiederum ist das Risiko physischer Misshandlung um 35% höher als bei Mädchen (Strickler 2001, 462). Das Risiko sexueller Misshandlung ist bei leichteren Formen geistiger Behinderung höher als bei schweren[11].

Das kanadische National Clearingshouse on Family Violence (1993) berichtet für geistig behinderte Kinder im Bereich der Familie insgesamt in folgenden Dimensionen erhöhte Risiken:

-         Emotionaler und verbaler Missbrauch;

-         Vernachlässigung;

-         Bedrohung/Belästigung (einschließlich sexueller Belästigung);

-         Misshandlung (einschließlich der Anwendung von physischem und medikamentösem Zwang (Psychopharmaka), aversiven Therapien unter Einschluss von „Time-out“.

Geistig behinderte Menschen sind nicht nur weit häufiger Bedingungen der Gewalt ausgesetzt, sie sind auch leichter durch Gewalt verwundbar aufgrund ihrer sozialen Absonderung in der Erziehung, in Beschäftigung und Wohnen, der sozialen Beeinträchtigung ihrer Entscheidungskraft, dem durch ihre Lebenssituation hervorgebrachten Mangel an Selbstwertgefühl, durch die fehlende Existenz entsprechende gemeindenaher sozialer Dienste, durch Armut und durch mangelnde Repräsentanz in Kultur und Medien (ebd.).

Mesobereich: Familie, Schule und Heime

Die Familie selbst ist bei schwer geistig behinderten Kindern in der Regel extremen Belastungen ausgesetzt, nicht nur durch die Existenz des behinderten Kindes sondern vor allem durch die Veränderungen ihrer sozialen Umwelt.

Schwere Regelverletzungen in der Beratung von Eltern durch Ärzte sind weitaus eher die Regel als die Ausnahme. Ihr nahezu durchgängiges Auftreten zeigt ebenso eine eigene Untersuchung der Lebenssituation von Familien mit einem Kind mit Rett-Syndrom (Jantzen und Rauer 1999, Rauer 2000) wie auch die Arbeit von Ziemen (2002) zur Kompetenzentwicklung von Eltern mit einem geistig behinderten Kind. So z.B. schwankten die medizinische Urteile bei ein- und demselben Kind von „Spätentwickler ... äh, seien sie mal nicht so hysterisch“ über „es braucht einfach ne härtere Hand in der Erziehung“ bis „praktisch so wie Mülltonne auf.“ (Jantzen und Rauer 1999, 8)

Die Beziehungen zur eigenen Familie, Großeltern und Verwandten, zu den Nachbarn usw. verändern sich zum Teil gravierend bis hin zum völligen Abbruch. Die zeitlichen Ressourcen minimieren sich, nicht nur für die direkte Organisation des Lebens, sondern auch durch die notwendigen Beziehungen zu Behörden und öffentlichen Einrichtungen. Es erfolgt in verschiedenen sozialen Feldern eine Verschiebung zum Pol der Ohnmacht, eine Verschiebung, der Eltern letztlich am besten entweder durch Rückzug auf die eigenen Kräfte und Aufbau neuer Kompetenzen, durch einzelne engagierte Personen von außen (Nachbarn, Freunde usw.) und vor allem durch Mitgliedschaft in Selbsthilfevereinigungen begegnen konnten, ohne sie jemals wieder außer Kraft setzen zu können.

Insgesamt empfanden die von uns befragten Eltern dann den Übergang in Kindergarten und Schule im Vergleich zur vorherigen Situation als eine Erlösung. Aber natürlich sind auch diese Institutionen nicht frei von Gewalt, insbesondere von struktureller Gewalt. Ich deute dies in einigen Bemerkungen an.

Unter struktureller Gewalt verstehe ich mit Galtung (1997) Einschränkungen der Freiheit und Einschränkungen der Identität. Einschränkungen der Freiheit erfolgen durch Marginalisierung (an den Rand schieben) und Fragmentarisierung (Vereinzelung). Beides ist in der Regel bereits durch die Überweisung in eine Sondereinrichtung gegeben. Einschränkungen der Identität erfolgen durch Penetration und Normierung.

Bei Penetration wird dem Begünstigten ein Platz im Benachteiligten geschaffen, also der Ausgeschlossene an denjenigen, der die Ausschließung realisiert, um den Preis der Anpassung emotional gebunden.

Eine spezifische Form von Normierung als struktureller Gewalt wäre die Verobjektivierung durch Diagnosen und Behandlungstechniken. Und gerade diese Aspekte dominieren in der Frühförderung. So in der Anwendung einer Reihe von Verfahren wie Doman-Delacato-Methode, Vojta-Therapie, Bobath-Therapie u.a.m.. Im allgemeinen dürften nach wie vor jene Widerstände gegen der Verzicht auf bloße Behandlungsmethoden existieren, auf die Rauh (1990) aufmerksam macht. In intensiven Interviews mit verschiedenen Therapeutengruppen, die sich in der Frühförderung behinderter Kleinkinder engagieren,

"hatten die Befragten außerordentliche Schwierigkeiten, gerade auf Fragen zu Entwicklungsverläufen, Entwicklungsprognosen, relevanten Entwicklungsanregungen und gezielten Entwicklungsinterventionen Auskunft zu geben. [...] Ihre Prognosen leiteten sie überwiegend aus chronischen organischen und sozialen Beeinträchtigungen des Kindes, meistens also der ärztlichen Diagnose, seltener aus der Beobachtung des Entwicklungstempos während der Förderzeit und schon gar nicht aus konkreten Beobachtungen während der Therapien her“.

Nicht nur, dass der Entwicklungsbezug nicht hergestellt werden konnte, FrühförderInnen führten darüber hinaus Bedenken an, man dürfe Zuordnungen von Kindern und Entwicklungsergebnissen aus ethischen Gründen nicht unternehmen.

In der Regel erfolgt im Kindergarten und Schulbereich eine vergleichbare Spaltung von guten und schlechten Anteilen bei Kindern wie in Großeinrichtungen und Heimen. „Gute“ Anteile der Kinder werden mit Freundlichkeit und Bindung belohnt, „schlechte“ Anteile werden kriminalisiert und mediziniert, so z.B. besonders deutlich im Falle des sog. Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms mit Hyperaktivität durch den flächendeckenden Einsatz von Ritalin.

Natürlich ist es gut für Kinder, zusammen zu sein, und für behinderte Kinder noch besser, nicht nur mit behinderten sondern möglichst auch mit nichtbehinderten Kindern zusammen zu sein. Und natürlich ist der Übergang in Kindergarten und Schule für die Familien eine große Erleichterung. Aber dies löst noch nicht das Dilemma, dass Kinder je deutlicher sie behindert sind oder sog. Verhaltensabweichungen zeigen, desto eher auf Natur und Schicksal reduziert werden und desto eher ihre Formen von Auflehnung und Aggressivität, geschuldet den bereits ins Selbst integrierten bisherigen Verhältnissen misslingender Bindung und Gewalt, als Ausdruck der Krankheit oder als deviantes Verhalten aufgefasst werden und nicht als Bewältigungsversuch in einer Situation struktureller Gewalt.

Im Schulbereich wiederholen sich derartige Verhältnisse gerade auch bei schwerstbehinderten Kindern. Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes von Klauß und Lamers an der Universität Heidelberg (Klauß 2003) verweisen darauf, dass dort Interdisziplinarität verschiedener Gruppen eher auf die personelle Abstimmung der Arbeit als auf die Herausarbeitung eines Entwicklungsbezuges für ein vertieftes Verständnis der Kinder zielt. Insbesondere stehen im Vordergrund bloße Techniken wie die „basale Stimulation“ nach Fröhlich, die von 68% der Fachlehrer (FL) und von 57,9% der Sonderschullehrer (SL) „durchgängig“ angewendet wird (zzgl.“teilweise“ bei 25% der FL sowie 35,7% der SL). Daneben werden „basale Kommunikation“ nach Mall, „sensorische Integration“, Wahrnehmungsförderung nach Affolter u.a.. genannt. Eher ganzheitliche pädagogische Sichtweisen, wie im sog. „beziehungsorientierten Unterricht“ nach Fornefeld, waren deutlich in der Minderheit (SL 25%, FL 12%).

Insgesamt fehlt es weitgehend an der Erforschung des Verhältnisses von struktureller Gewalt und geistiger Behinderung in Schule und Kindergarten; alle vorhandenen Indikatoren sprechen jedoch deutlich für durchgängig enge Zusammenhänge.

Wesentlich offener liegen die Verhältnisse für den Heim- und Anstaltsbereich, innerhalb dessen nach wie vor ein große Anzahl geistig behinderter Menschen platziert sind.

Stand vor einer Reihe von Jahren lediglich die durch starke Evidenzen aus anderen Bereichen gestützte Vermutung, dass Großeinrichtungen weit eher Behinderung konstruieren als sie abbauen zu können (vgl. Herzogs kritischen Bericht aus dem Jahre 1984), so zeigen neuere Arbeiten eindeutig die tiefe Durchdringung dieser Institutionen mit allen Ebenen und Formen der Gewalt (vgl. Jantzen 1999 c, erweitert 2003 b; Michalek 2002). Sie sind unter allen Umständen und ohne dass dies behebbar ist, totale Institutionen, so wie in Goffmans „Asyle“ (1972) oder in der ethnomethodologischen Studie von Fengler und Fengler (1994) zum Alltag einer geschlossenen Abteilung in einem landespsychiatrischen Krankenhaus beschrieben. Voraussetzung ihrer Wirkweise sind besondere Gewaltverhältnisse und soziale Ausschlussverfahren, welche bürgerliches und politisches Leben außer Kraft setzen. Die Reduktion der Insassen auf bloßes, jedoch heiliges Leben kommt vielleicht am deutlichsten in der Denkweise des leitenden Pastors einer Diakonischen Einrichtung für schwerstbehinderte Kinder ca. Mitte der siebziger Jahre zum Ausdruck. „Sie waren die ‚Seligen‘, die nicht aus dem Bett genommen und mobilisiert werden sollten“ (Beyer 2000, 26).

Exo-Bereich: Das Beispiel der freien Wohlfahrtsverbände

Um ihre Wirkweise zu begreifen, muss man „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ dieser „humanitären“[12] Einrichtungen in Bezug setzen. Die Vorderbühne „wohltätigen“ Handelns organisiert sich über Betriebsphilosophien, innerhalb derer soziale Beziehungen zu Beziehungen verklärt werden, welche, so Bourdieu (1998 a, 191) „auf Geistesverwandtschaft und religiösem Tausch beruhen“; die Hinterbühne organsisiert sich jedoch über die Ökonomie und eine Politik des Profits am sozialen Ausschluss. „Man hat es also mit (schulischen, medizinischen, karitativen usw.) Unternehmen zu tun, die, da sie nach der Logik von Ehrenamt und Opfergabe funktionieren, in der ökonomischen Konkurrenz beträchtlich im Vorteil sind (einer dieser Vorteile der Markenzeichen-Effekt, gilt doch das Adjektiv christlich [bzw. „humanitär“; W.J.] als Garant für eine im Grund innerfamiliale Moral.“ (ebd. 193 f.)

In ständigen Kreisläufen von “Beziehungsarbeit” angesichts einer widerspenstigen Natur der Internierten verschleißen sich ganze Generationen von MitarbeiterInnen unter Bedingungen des “bourn out“ und des „cooling out“ in der immer erneuten Herstellung von Austauschverhältnissen, deren Kern die Reduktion der InsassInnen auf das „nackte Leben“ und die Außerkraftsetzung von Menschen- und Bürgerrechten dort ist, wo ihre Durchsetzung am dringendsten vonnöten wäre. Manchmal fallen Schlaglichter auf diese Szene:

Dort wo z.B. das leitende Vorstandsmitglied einer nahezu in Konkurs geratenen Großeinrichtung mit 1,5 Mio. DM abgefunden wird, während MitarbeiterInnen um ihre Abfindungen nach betriebsbedingter Kündigung klagen müssen.

Oder, wo wie jetzt, Wohlfahrtsverbände unter dem Druck der Deregulierung neben einer Intensivierung von Stellenabbau flächendeckend aus BAT-adäquaten Tarifen aussteigen, den MitarbeiterInnen Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld gestrichen werden oder in Ostdeutschland bereits darüber hinaus direkte Lohnkürzungen erfolgt sind (mit gravierenden Folgen für die Arbeitsqualität in den Einrichtungen).

Gleichzeitig sind aber Diakonie und Caritas ebenso wie auch die anderen vier in der „Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege“ organisierten Dachverbände Großkonzerne mit ungeheueren ökonomischen Rücklagen (Frerk 2002, 379 ff), oder nach Meinung „unfreundlicher Zeitgenossen“ die „Mafia in der deutschen Wohlfahrtsindustrie.“ (ebd.) Obwohl das Vermögen dieser Verbände ständig durch die staatliche Finanzierung ihrer Immobilien steigt, sie sehr wohl in offenen Widerstand zur Deregulierung gehen und humane Bedingungen für etliche Zeit verteidigen und ausbauen könnten, passen sie sich ohne nennenswerten Widerstand nahezu klaglos an. Ersichtlich sind sie, wie schon oft in ihrer Geschichte (vgl. Bauer 1978, Bauer 1984, Bauer und Dießenbacher 1984) weitaus mehr am Ausbau ihres Konzerns als am Wohlergehen der in den Einrichtungen Beschäftigten und schon gar nicht der Internierten interessiert.

Dies geschieht unter autoritären Verhältnissen, die eine „Ethik des Gehorsams“ (Bauman 1992) der Beschäftigten gerade zu erzwingen.

Die andere Seite dieses Zwanges ist die massenpsychologische Bindung der MitarbeiterInnen an die Oberen durch Einstimmung in humanitäre Betriebsphilosophien auf der Vorderbühne. Den Bibelspruch „Was Ihr getan hab den geringsten meiner Brüder, das habt Ihr mir getan“ im Ernstnehmen dieser Betriebsphilosophie der Vorderbühne jedoch ernsthaft gegen die Oberen zu wenden, hätte mit Sicherheit die Entlassung zur Folge, nicht aber die Änderung unmenschlicher Umstände von denen diese Einrichtungen voll sind.

Der Tendenzschutz bei Diakonie und Caritas sichert vor gewerkschaftlicher Mitbestimmung; die Verfasstheit der meisten Einrichtungen als gemeinnützige GmbH setzt über alleinige Entscheidungsgewalt von Geschäftsführern - als größtes Qualitätsrisiko - ohne effektive inhaltliche Kontrolle durch Aufsichtsräte autoritäre Strukturen, die jeden ernsthaften Widerspruch ersticken (vgl. Ludemann und Negwer 2000).

Gänzlich im Unterschied zur englischen Situation fehlt es bei der Qualitätssicherung im deutschen Bereich weitgehend an Instrumenten effektiver pluralistischer Kontrolle und Mitbestimmung (Klie 1999, Hansen 1999).

Exo- und Makrobereich: Globalisierung und Deregulierung

Diese Prozesse stehen einerseits im Kontext von Globalisierung und Deregulierung, sind ihnen andererseits aber keineswegs völlig unterworfen. Wie es die weltweite Tätigkeit zahlreicher NGO zeigt, kann auch in diesen Bereichen entscheidend Widerstand geleistet werden. Allerdings würde dies gleichzeitigen nationalen Widerstand gegen die staatsbürokratische und staatsnahe Verfasstheit der Wohlfahrtsverbände bedeuten, die historisch wie heute Kernstrukturen einer Bevölkerungspolitik realisieren, in deren Zentrum biopolitische Strategien stehen. Entscheidende Prozesse der Setzung des Ausnahmezustandes liegen jedoch hinter der nationalstaatlichen in der ökonomisches Sphäre.. Mit der Globalisierung und ungehemmten Freisetzung der Internationalen Aktienmärkte entsteht Souveränität jenseits der traditionellen Staaten, so die Kernthese eines vielbeachteten Buches von Negri und Hardt (2000), die diese neue Form einer sich herausbildenden globalgesellschaftlichen Verfasstheit als „Empire“ bezeichnen.

Dass hiervon direkte und strukturelle Gewalt ausgeht, sei abschließend mit einem Schlaglicht hervorgehoben: Bei der Sanierung der Telekom durch den neuen Vorstandsvorsitzenden Ricke sind Stellenstreichungen von 42500 Stellen in Deutschland geplant (Deutsche Telekom, Pressemeldung vom 14.11.02). Nach den Daten des des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (Bach und Spitznagel 1988) liegen die Kosten pro verlorenen Arbeitsplatz für das Gemeinwesen jährlich ca. 20.000 €. Dies ergibt eine jährliche Sozialisierung der Verluste der Telekom von 850 Millionen Euro durch Abwälzung auf Bund, Länder und Kommunen bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne bei Vorständen, Aufsichtsräten und Aktionären.

Mechanismen dieser Art (vgl. Martin und Schumann 1996, Forrester 1997) treiben nicht nur nationale Volkswirtschaften in den Ruin, sie erzwingen neue und transnationale Formen des Ausnahmezustandes mit dem Ziel, immer größere Teile der Weltgesellschaft auf das „nackte Leben“ zu reduzieren, so in den Visionen einer 20:80-Gesellschaft, in der 20% der Menschen Arbeit und Einkommen haben, 80% dagegen mit „tittytainmant“ (Ernährung und Unterhaltung) am Rande jeglicher menschenwürdigen Existenz dahinvegetieren sollen (Martin und Schumann a.a.O.).

Ersichtlich hat tatsächlich zu gelten, was Walter Benjamin, der sich am 26. September 1940 auf der Flucht vor der Gestapo das Leben nimmt, in seiner achten geschichtsphilosophischen These bemerkt: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen ...“ (1965, 84)

Schlussbemerkungen

Der verborgene Kern geistiger Behinderung ist Gewalt, so war meine Ausgangsthese. Als Kern dieser Gewalt, die auf allen Ebenen menschlicher Existenz, biologisch, psychologisch, sozialwissenschaftlich ausmachbar ist, wurde die Reduktion von Menschen auf bloße Natur und Schicksal herausgearbeitet, innerhalb derer bürgerliches und politisches Leben in nacktes Leben transformiert wird. Dieser Vorgang ist nach Giorgio Agambens staatstheoretischer Analyse der verborgene Grundvorgang der Moderne. Für Agamben bleibt offen, wie Walter Benjamins Satz zu denken ist, der auf die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes zielt.

Wenn wir davon ausgehen, dass jene Ethik des Gehorsams, die zentraler Kern der Transformationen von Politik in Natur ist (vgl. Bauman 1992, 1995), nur außer Kraft gesetzt werden kann durch persönliche Verantwortung an Stelle technisch formaler Verantwortung, durch eine Ethik der Anerkennung des Antlitzes des Anderen, die in sich jedoch immer ambivalent ist, immer in Stellvertretung und wohltäterischen Terror umschlagen kann, so ist das unabdingbare zweite Element dieses neuen Ausnahmezustandes ein demokratischer Pluralismus, der prinzipiell jeder von Gott oder wem auch immer eingesetzten Obrigkeit misstraut.

Bei Albert Schweitzer liest sich dies beispielsweise so:

Keinen Augenblick legen wir das Misstrauen gegen die von der Gesellschaft aufgestellten Ideale und die von ihr im Umlauf gehaltenen Überzeugungen ab. Immer wissen wir, dass sie voller Torheit ist und uns um Humanität betrügen will.“ (1960, 351)

Kern dieses wirklichen Ausnahmezustandes ist die soziale Retransformierung von nacktem Leben in politisches und bürgerliches Leben, welche sich jener Bedingung der eigenen Freiheit der Handelnden sicher weiß, dass die freie Entwicklung eines jeden, die „Bedingung der freien Entwicklung aller ist“ (Marx und Engels 1972). Eine Bewegung, die weiß, dass der Grund jeglicher Freiheit in einem „Nein zur Macht“ (Paz 1981) bzw. in der „résistance à l’oppression“, im Widerstand gegen Unterdrückung besteht, so der Grundkonsens der französischen Revolution (Bloch 1985). Der Kern dieses neuen Ausnahmezustandes aber wäre der radikale Verzicht auf die Anwendung von Gewalt gegen die Ohnmächtigen.

 

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[1] Vortrag auf der Tagung „Institution = Struktur = Gewalt“ des Fachverbandes Erwachsene Behinderte und des Heimverbandes Schweiz am 18.11.2002 in Olten (Schweiz)

[2] Vgl. Graumann (1960) zu dem Problem unterschiedlicher Ebenen der Darstellung von Persönlichkeitseigenschaften.

[3] Abgesehen von politikwissenschaftlichen Gründen, den Begriff des Krieges hier zu verwenden (die im Kern nicht mögliche politische Unterwerfung von Subjektivität - letztere bleibt auch in der Reduzierung auf nacktes Leben unverfügbar -  führt Spinoza dazu, hier vom Kriegsrecht im Bürgerrecht zu sprechen; auf dieser Basis entwickelt Negri [1982] den Begriff des „Horizont des Krieges“, der im Bürgerrecht ständig präsent ist), haben Klaus Dörner u.a. (1980) im Kontext der Vernichtungspolitik des NS-Regimes den Begriff des „Kriegs gegen die psychisch Kranken“ eingeführt, welcher zugleich ein Krieg gegen die Behinderten war. Wenn Krieg jedoch ein Gesellschaftszustand ist (vgl. Reemtsma 1996), so ist er latent auch in scheinbar kriegsfreien Zonen und Zeiten präsent.

[4] Siehe http://www.prisonexp.org/german/indexg.htm bzw. den Film von Moritz Bleibtreu „Das Experiment“ (Bezug über http://eurovideo.de oder http://www.amazon.de). Bezogen auf die Soziologie der Gewalt; vgl. die Diskussion dieser Ergebnisse bei Bauman (1992, Kap. 6)  zur „Ethik des Gehorsams“.

[5] Vgl. die Resultate der sozialpsychologischen Experimente von Milgram: Unmenschlichkeit steigt als Resultat der größeren Distanz zu den Opfern, gleichzeitig legitimiert durch eine Ethik des Gehorsams gegenüber Autoritäten (Bauman ebd.).

[6] Wie naheliegend derartige Phantasmen im sozialen Bewusstsein der Gesellschaft sind, ist z.B. auch aus dem Faktum ersichtlich, dass die medizinische Lehre von den „Fehlbildungen“, die Teratologie ihren Namen von „teras“ (gr.) = Monster ableitet.

[7] „This is the heart of the developing mind“ (1998, 67)

[8]  Recherchiert wurde in der umfangreichsten, öffentlich zugänglichen, medizinischen Datenbasis PubMed <http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi>; eine Recherche bei Google mit den Stichworten „mental retardation“ und „posttraumtic stress disorder“ erbrachte keine Ergebnisse.

[9] Inclusion International vertritt ca. 50 Mio. geistig behinderte Menschen und ihre Familien weltweit und verfügt über 173 Mitgliedsorganisationen in 109 Ländern

[10] Kein Befund ist selbstredend, lediglich die Qualität der begrifflichen Ordnung unterscheidet die bloße Präsentation von Empirie im Sinne von Beschreibungswissen von deren theoretischer Ordnung im Sinne von Erklärungswissen (vgl. Vygotskij 1985).

[11] Für die Gesamtgruppe der geistig behinderten Erwachsenen werden 25 – 67 % an sexuellem Missbrauch berichtet, darunter bei Frauen ca. 2-3 mal so häufig wie bei Männern. Für geistig behinderte Mädchen liegen die Werte um 24% bei Jungen um 6% (National Center for Injury Prevention and Control 2002). Andere Studien gelangen zu Werten bis zum 18. Lebensjahr von 39 –69 % bei Mädchen und 16-30% bei Jungen. (Reynolds 1997). Einzelne Untersuchungen gehen auf der Basis von nichtinstitutionalisierten geistig Behinderten von einem Vorliegen von Vergewaltigung oder Incest bei leicht (mildly) behinderten Personen von 33% der Untersuchten und von 25% bei mäßig (moderatly) behinderten Personen aus (Dyke et al. 1995). Alle von mir hierzu zitierten Quellen sind Literaturzusammenfassungen (Reviews).

[12] In semantischer Hinsicht steht der Begriff “humanitär” (wohltätig) zum Begriff “human” (menschlich) im gleichen Verhältnis wie der Begriff „sanitär“ (also die Entsorgung von Exkrementen, Eiter, Unreinem ebenso durch Sanitäter wie die dem Installationshandwerk zugeordnete bauliche Realisierung des Sanitären) zum Begriff „gesund“ (lat. „sanus“).