Prof. Dr. Wolfgang Jantzen (Universität Bremen)

Separierte oder integrierte Erziehung?[1]

 

Ich habe hier also zu dem Thema „Separierte oder integrierte Erziehung“ zu reden. Wer ein bißchen was von mir weiß, wird vermuten, daß die Antwort eine ganz bestimmte sein wird. Ja, sie wird eine ganz klare Antwort für integrierte Erziehung sein, aber das ist genau zu bestimmen, was das ist, und das darf keinesfalls dem Zufall und den bloßen Lippenbekenntnissen überlassen werden.

Ich gehe deshalb in drei Schritten vor, und bevor ich im zweiten Teil ausführlich auf empirische Ergebnisse bisheriger integrativer Arbeit eingehe, sage ich im ersten Teil einiges zum Vorverständnis. Und schlielich verweise ich abschließend darauf, daß Integration zu betreiben nicht heißt, Widersprüche aufzulösen, sondern sie auf ein höheres Niveau zu heben.

Zum ersten Teil: Ich habe versucht, das Gesamtproblem der Integration in neun Thesen zusammenzufassen, in denen ich versuche, es in biologischer, psychologischer und sozialer Hinsicht anzureißen und zu behandeln.

Neun Thesen zur Integration:

These 1:

Bei der Diskussion des Themas „Integration“ ist sorgfältig darauf zu achten, daß dabei die Probleme verschiedener Ebenen, d. h. der biologischen, der psychischen und der sozialen Ebene, nicht vertauscht werden.

Gemeinhin neigen wir dazu, Behinderung als ein biologisches Problem zu sehen, bestenfalls als ein psychologisches, die Dominanz der sozialen Ebene wird kaum diskutiert. Sieht man sich aber schlicht und einfach die Empirie an, d. h. die vorliegenden Längsschnittuntersuchungen über die Entwicklung von Kindern mit schweren Geburtsrisiken, dann zeigt es sich ganz klar, daß zwar die je niederen Ebenen, die biologische und die psychologische Ebene immer Voraussetzung für die je höhere Ebene sind, daß aber das Biologische von den psychischen Prozessen und die psychischen Prozesse von den sozialen determiniert werden.

Ich verweise auf die Rostocker Längsschnittuntersuchung in der DDR, die deutlich zeigt, daß das Hauptdeterminationsmoment für die Entwicklung von Risikokindern in positiver Hinsicht soziale Faktoren und nicht die biologischen sind (Meyer-Probst u. Teichmann 1984), und ich verweise auf die Kauai-Studie von Emmy Werner, in der deutlich gezeigt wird, daß auch bei Extremgruppen mit enormer Risikobelastung nach 25 Jahren das Hauptmoment der Stabilisieirerung soziale Verhältnisse sind, die sich so in psychische Verhältnisse umsetzen, daß Menschen, die ein Leben voll Achtung und Respekt erfahren, auc psychisch eine Wendung zum Besseren nehmen.

These 2:

Aus diesen Zusammenhängen folgt, daß das Thema „Integration“ nicht am einzelnen Subjekt behandelt werden darf, sondern nur im Systemzusammenhang „Subjekt - Tätigkeit - Objekt“ behandelt werden kann, und das heißt auf menschlichem Niveau: „Persönlichkeit - Tätigkeit - Gesellschaft“. In diesem Kontext von Gesellschaft bestimmt sich die Möglichkeit von Persönlichkeitsentwicklung über die Reichhaltigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die im Entwicklungsprozeß zugängig sind. Daß das so ist, wird vielfältig belegt über die Forschungen zur Isolation unterschiedlicher Art, von der Hospitalismusforschung im Kleinkindalter angefangen, bis über die Hospitalisierung von psychisch Kranken und Behinderten, über Lern- und Persönlichkeitsentwicklung im Ghetto von sog. Randgruppen usw.

Diese gesellschaftlichen Verhältnisse sind aber in sich nicht unstrukturiert, sondern sie unterliegen der Machtverteilung undökonomischen Interessen. Uund Persönlichkeitsentwicklung ist letztendlich immer an die Verteilungsvorgänge gekoppelt, insbesondere an die Transfers zwischen dem Bereich der Produktion und dem Bereich der Reproduktion, oder sagen wir es ganz klar: Was an Subventionen an die Großkonzerne geht, kann nicht in die Sozialpolitik gelangen.

These 3:

Persönlichkeitstheoretisch bedeutet daher Integration die umfassende Teilnahme an sozialem Verkehr, an Produktion und Kultur, am Leben mit Gleichaltrigen sowie mit mit älteren und jüngeren Menschen in dem Sinne allseitiger Entwicklung der Potenzen, wie es immer noch am schönsten in einem Zitat von Karl Marx aus den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ zu finden ist. Er fragt: „Was ist denn der menschliche Reichtum, wenn man die bürgerliche Form abstreift?“ und kommt zu folgender Formulierung: Er ist nichts anderes „als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc der Individuen, die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur, sowohl wie seiner eigenen Natur, das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen ohne andere Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher nicht gemessen an einem vorhergegebenen Maßstab zum Selbstzweck macht, wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern eine Totalität produziert. Nicht irgend etwas Gewordenes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist.“ (MEW 42, S. 394). Wenn Persönlichkeit als die Hervorbringung der Totalität der Möglichkeiten des menschlichen Lebens gefaßt werden kann, dann kann zwangsläufig Isolation und Behinderung als Prozeß der Persönlichkeitszerstörung verstanden werden unter der Bedingung, daß isolierten und behinderten Menschen der gesellschaftliche Reichtum in diesem Sinne nicht zugängig wird.

These 4:

Dies bedeutet, die Postulierung biologischer Defekte als generelle und allgemeine Bestimmungsmerkmale für die Persönlichkeitsentwicklung von Behinderten, aber auch allgemein, zurückzuweisen. Zum einen deshalb zurückzuweisen, weil das biologisch falsch ist, zum anderen weil biologische Merkmale lediglich die Gesamtheit eines für die Gattung Menschheit naturgeschichtlich gewordenen Möglichkeitsraumes ausdrücken. Unter allen Bedingungen bedarf dieser Möglichkeitsraum sozialer Realisierung, und der Defekt ist in dieser Beziehung nicht im Biologischen begründet, sondern es kommt zu einem Zusammenbruch der sozialen Beziehungen aufgrund des biologischen Defektes. Das heißt, indem durch den biologischen Defekt die Kommunikationsunfähigkeit der anderen Menschen hervorgebracht wird und durch soziale Bedingungen systemhaft gesetzt ist, tritt erst die Isolation auf, die in älteren Theorien zwangsläufig und unmittelbar als Folge des Defektes beschrieben wurde.

Für einige Dinge ist das offensichtlich, wie für Blindheit, da ist das klar zu vollziehen. In anderen Formen des sozialen Verkehrs studieren Behinderte heute, die vor hundert Jahren zu einem Leben als Korbmacher verdammt gewesen wären.

Es geht also auch hier generell um die Frage, wie kann unter den Bedingungen dieses für alle Menschen gegebenen biologischen Möglichkeitsraumes mit dem biologischen Defekt so umgegangen werden, daß die Möglichkeit zum sozialen Verkehr nicht abbricht, sondern erhalten bleibt. Auch hier geht es wieder um die Reichhaltigkeit und Weise der Vermittlung des Menschen mit der Welt.

These 5:

Dies bedeutet, daß für die Frage der Integration die reichhaltigste und entwickeltste Pädagogik erkämpft werden muß. Die haben wir nicht. Weder in der Sonderpädagogik, die unter Bedingungen extremer Homogenisierung und Ausschaltung weitgehender Probleme des Erziehungs- und Bildungsprozesses gearbeitet hat, wir haben sie auch nicht in der Allgemeinen Pädagogik, die nach der anderen Seite separiert hat und nur eine Normalpädagogik des Gymnasialschülers in der einen Hinsicht oder des Volksschülers in der anderen Hinsicht geworden ist. Wir haben sie ansatzweise in der Reformpädagogik, aber auch das reicht nicht für das, was wir brauchen. Wir haben sie aber auf jeden Fall auch in den Werken großer Pädagogen, auch wenn sie nicht von Behinderung sprechen, ob wir Makarenko, Korczak, Pestalozzi lesen, überall finden wir Elemente dieser reichhaltigen Pädagogik.

These 6:

Wir finden in den vorherrschenden Pädagogiken bestimmte institutionelle und ideologische Momente, auf die ich jetzt eingehe.

Die Gymnasialpädagogik als die Allgemeine Pädagogik für die Eliten und die sog. volksktümliche Erziehung als die Allgemeine Pädagogik für die sog. Massen haben sich ebenso wie die Hauptlinie der Sonderpädagogik lediglich als soziale Strategien zur Vorenthaltung von Bildung für die Mehrheit der Bevölkerung erwiesen. Sie haben sozusagen politisch-strategische, insbesonders ideologische Funktionen in der gesellschaftlichen Produktion von Eliten einerseits und Massen andererseits. Zur Illustration empfehle ich eine von unserem Bundesministerium für Wissenschaft und Bildung herausgegebene Broschüre zu Hochbegabten, in deren Vorwort steht, es sei nun lange genug etwas für die Lernbehinderten getan worden, so ginge es nicht weiter (Wieczerkowski 1985l, S. 85).

Die Produktion von Eliten und Massen hat natürlich unmittelbar etwas mit ökonomischen Interessen und der Erhaltung von Macht zu tun. Insofern sind diese Strategien für die Mehrheit der Menschen von ihrer Funktion her Strategien des sozialen Ausschlusses, die ihren Niederschlag in Institutionen finden, die durch bürokratisch bzw. rechtlich und polizeilich sanktionierte Strategien diesen gesellschaftlichen Ausschluß regulieren. Insofern sind sie in bestimmter Hinsicht, wie Franco Basaglia das ausgedrückt hat, „Institutionen der Gewalt“ (1973). Dies ist ihre gesellschaftliche Funktion im Rahmen eines bestimmten Teiles von gesellschaftlicher Infrastruktur, nämlich der repressiven Infrastruktur. Im Interesse der Herrschenden, der Macht, der Ökonomie geschieht Verhinderung von Persönlichkeitsentwicklung. Gleichzeitig sind diese Institutionen in unterschiedlichem Ausmaß Institutionen der Reproduktion, sie gewährleisten Bildung und Gesundheit.

Und diese Dialektik, einerseits Institution der Gewalt zu sein und andererseits Institution der sozialen Reproduktion zu sein, drückt sich im Handeln der Menschen aus, die in diesen Institutionen arbeiten. In der Regel erscheint die Funktion, „Institution der Gewalt“ zu sein, jedoch nicht in den Bewußtseinsprozessen der in allgemeiner Schule, Sonderschule, Psychiatrie usw. arbeitenden Lehrer, Sonderschullehrer und Ärzte, sondern diese Institutionen erscheinen lediglich als konkrete Orte. Nur als solche werden sie gesehen, als konkrete Orte, wo man mit gutem Willen und unter Sachzwängen in der besten Weise zu arbeiten versucht. Das gesellschaftliche Ganze wird nichtgesehen. Das Gesellschaftliche gerinnt zur Formel des Sachzwangs, das Persönliche gerinnt zur Formel des guten Willens.

Niemand wird auf der soziologischen Ebene auf die Idee kommen, die Frage zu negieren, daß in diesen Institutionen auch wirklich partiell Gesundheit und Bildung entwickelt wird - aber es ist immer auch die Frage zu stellen nach dem Verhältnis von möglicher und wirklicher Persönlichkeitsentwicklung in jeder dieser Institutionen, also jeweils auch nach dem Grad des sozialen Ausschlusses, der zugleich vollzogen wird, um dann die Handlungsspielräume in den Institutionen, wie auch die Möglichkeiten ihrer Änderung überhaupt erst aufspüren zu können.

Die bloße Setzung der eigenen guten Absicht gegen die Tatsache, zugleich in einerInstitution der Gewalt zu arbeiten, macht die dort arbeitenden Menschen - so drückt das Franco Basaglia aus - faktisch, ob sie das wollen oder nicht, zu „Befriedungsverbrechern“ (1980), also zum sozialen und ideologischen Faktor, der Integration in diesem definierten Sinne von Persönlichkeitsentwicklung verhindert.

Wer also - immer noch meine sechste These - Integration nicht jeweils im Verhältnis zum je gegebenen Grad des gesellschaftlichen Ausschlusses sieht, an dem er selbst auf jeder Ebene beteiligt ist, auch dann, wenn er ihn aufheben will, der denkt verkürzt. Ich bin am gesellschaftlichen Ausschluß auch dann beteiligt, wenn ich die Sonderschulen auflöse und das Problem in die Volksschulen zurückgebe, das ist eine andere Form des Ausschlusses.

Also, es wird verkürzt gedacht, mit der Folge, daß entweder Gesellschaft im Denken in kleine Inseln der Harmonie aufgelöst wird und Infragestellungen dieser Harmonie als persönlicher Angriff verstanden werden muß, oder Gesellschaft wird aufgelöst in unhinterfragte Räume von persönlicher Machtausübung und Bürokratisierung. Und oft tritt beides zugleich auf. Beides wird geschaffen von den in diesen Institutionen arbeitenden Menschen, sofern sie sich ihrer sozialen Lage nicht bewußt sind, und enthält damit den Betroffenen, die in letzter Konsequenz die Insassen dieser Institutionen sind, Möglichkeiten ihrer Entwicklung vor, indem die dort arbeitenden Professionellen nicht in der notwendigen und möglichen Weise Partei ergreifen. Soweit meine sechste These.

These 7:

Da aber soziale Integration - ich rede jetzt von sozialer Integration, nicht mehr von persönlicher - in jedem Fall stattfindet, jedoch im Verhältnis zum sozialen Ausschluß immer nur im Sinne dessen, was die herrschenden Interessen, insbesondere Ökonomie und Macht, hervorbringen, ist der Begriff „Integration in die Gesellschaft“ gänzlich unsinnig.

Jeder Mensch ist in die Gesellschaft integriert im sozialen, im gesellschaftswissenschaftlichen Sinn, nur die Frage, ob er sich in dieseer Form der Integration umfassend als Persönlichkeit entwickeln kann oder aber von der Reichhaltigkeit gesellschaftlicher Möglichkeiten isoliert ist, ist davon überhaupt nicht berührt. Deshalb wird natürlich von den Ideologieproduzenten aus der Politik ebenso wie von den Gruppen der Intelligenz, die traditionell in diesen Bereichen arbeiten, oft alles zur Integration erklärt. Integration findet sozusagen durch Separierung statt - das sind die neuen Formeln.

Ja, diese Formel, daß Integration eigentlich als Absonderung stattfindet, hat auch ihre Geschichte; ich gehe nicht auf alles ein, ich greife nur einen Satz auf, der seine Geschichte hat und der schon vorher Geschichte war: „Jedem das Seine!“ so hieß es bei den Faschisten, und das steht wieder bei Franz Josef Strauß in seinem zentralen, theoretischen Werk „Gebote der Freiheit“. „Chancengerechtigkeit“ statt widernatürlicher „Chancengleichheit“, das sind die Formeln, in denen sich solche Denkmuster ausdrücken, in denen soziale Unterschiede zu natürlichen und biologischen Unterschieden gemacht werden sollen.

Ob eine Integration im persönlichkeitstheoretischen Sinn, wie ich das entwickelt hatte, jedoch stattfindet, dies ist keine Frage von Meinungsbeteuerung, sondern eine Frage des realen Zusammenhangs von möglicher Persönlichkeitsentwicklung und einer wirklichen Persönlichkeitsentwicklung unter den Bedingungen des zugleich stattfindenden sozialen Ausschlusses. Die Frage darf also nicht nach einer „Integration in die Gesellschaft“ gestellt werden, sondern nach einer „Integration in der Gesellschaft“.

These 8:

Auf diesem Hintergrund sind bestimmte Argumentationen ideologieverdächtig.

-         Die Argumentation ist ideologieverdächtig, die die Möglichkeiten von Integration mit biologischen bzw. defektbezogenen Argumenten begrenzt. Es wird gesagt, irgendwo muß doch die Grenze sein, denn geistig Behinderte oder Schwerstbehinderte können wir wirklich nicht integrieren.

-         Ideologieverdächtig ist ferner eine Argumentation, die behauptet, in einer Institution, die einen größeren Grad sozialen Ausschlusses darstellt, wie etwa die Sonderschule gegenüber der Realschule, könne Integration qua Institution erfolgen.

-         - Ideologieverdächtig sind ferner Positionen, die auf dem Hintergrund von vorgefundenen Bedingungen des Schulsystems, beispielsweise segmentierter Lehrplan, Zeugniszwang auf allen Altersstufen, Benotungszwang, Papier-Bleistift-Techniken usw., die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Integration diskutieren, statt sie auf der Basis der für die Persönlichkeitsentwicklung notwendigen Bedingungen zu diskutieren.

-         Ideologieverdächtig sind ferner Positionen, die von Integration in die Gesellschaft sprechen, aber vom sozialen Ausschluß auf allen Ebenen schweigen.

-         Ideologieverdächtig sind außerdem Positionen, die meinen, in der traditionellen Sonderpädagogik oder in der Allgemeinen Pädagogik oder in irgendeiner anders bereits ausgearbeiteten Pädagogik bereits das Instrumentarium zur Behandlung dieser Frage zu finden und sich nicht theoretisch wie praktisch der Herausarbeitung einer Allgemeinen Pädagogik stellen, die die Integration aller Kinder ermöglicht - vom Schwerstbehinderten bis zum Gymnasiasten.

These 9:

Ich behaupte damit keineswegs, daß Integration im Sinne umfassender Persönlichkeitsentwicklung überall und sofort realisierbar ist; ich will vielmehr die Bedingungen nennen, wie dies in einem historischen Prozeß angegangen und entwickelt werden kann, der von einer humanen Gesellschaft mit reichhaltigen Entwicklungsmöglichkeiten für alle ausgeht. Ich stelle also die Möglichkeit der Verwirklichung menschlicher Natur gegen die herrschende Normalität.

Soweit zum ersten Teil, um das Vorverständnis zu klären. Ich möchte Sie im zweiten Teil über einige Erfahrungen mit Integration informieren, und zwar zunächst über den Kindergartenbereich und dann über den Schulbereich.

 

Erfahrungen mit der Integration in Vorschule und Schule

 

Ich beginne im Kindergartenbereich mit zwei Erfahrungen, die aus meinem Arbeitszusammenhang erwachsen sind; das eine ist meine eigene Erfahrung bei der Auflösung einer Sondereinrichtung für schwerstbehinderte Kinder, nämlich der „Spastikerhilfe Bremen“, und den Aufbau eines integrierten Kindergartens, das andere ist die Erfahrung meines Kollegen Feuser, der in den Kindergärten der Diakonie in Bremen den umgekehrten Weg gegangen ist, nämlich den Regelkindergarten für Behinderte zu öffnen.

Zunächst zur „Spastikerhilfe Bremen“ einige kurze Daten. Seit 1980 fand dort eine betriebsinterne Fortbildung statt, in der versucht wurde, das, was ich vorher an Entwicklungsmöglichkeiten in allgemeiner Form gekennzeichnet habe, überhaupt in den pädagogischen Prozeß des Alltags hineinzubringen (vgl. Alpers u.a. 1983; Holste 1984, Seidler 1987). Und die hochqualifizierten und eigentlich sehr freundlichen Erzieher dort waren erstaunt, wieviel sie immer und regelmäßig übersehen haben.

In diesem Prozeß, in dem wir, immer wieder von den Bedürfnissen der Erzieherinnen und Erzieher aus der Praxis anknüpfend, Fortbildung betrieben haben, tauchte eine Sichtweise auf, die dazu führte, die Kinder anders sehen zu können und feststellen zu können: Diese Kinder gehören doch gar nicht zu uns, die müßten doch zumindest in der Geistigbehindertenschule oder Körperbehindertenschule aufgenommen werden. Hier hat sich ein Prozeß entwickelt, im Rahmen dessen, vorbereitet durch ausführlich förderungsbezogene Gutachten, so viele Kinder in diese Schulen übergeben werden konnten, daß die Spastikerhilfe vor dem Problem stand, wie sie ihre Räume noch füllen soll, und auf diesem Hintergrund konnte auch ein integrierter Kindergarten durchgesetzt werden.

Dieser Kindergarten hat zunächst einmal mit zwei Gruppen gearbeitet, zusammengesetzt aus 9 nichtbehinderten und 4 behinderten Kindern, war stadtteilorientiert, hat alle Kinder aufgenommen, außerdem die als nichtbehindert klassifiziert, in Regeleinrichtungen nicht tragbar waren, hat außerdem Kinder aufgenommen, die man als behindert hatte deklarieren können, aber als Behinderte nicht erfaßt waren, und hat Kinder aufgenommen, die beim Hauptgesundheitsamt als Behinderte gemeldet waren, aber von den Eltern nicht als Behinderte gemeldet wurden. An diesen drei Stellen ist jeweils auch das Etikett Behinderung nicht verwendet worden.

Der Personalschlüssel war günstig, weil wir versucht haben, den alten Personalschlüssel zu halten und das Verhältnis Behinderte / Nichtbehinderte so aufzuteilen, daß in der Mischfinanzierung einerseits nach Bundessozialhilfegesetz und andererseits nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz keiner der Kolleginnen und Kollegen entlassen werden mußte.

Auf dem Hintergrund dieser Arbeit haben wir das Ziel von Pädagogik und Therapie so bestimmt, Isolation aufzuheben und zu vermeiden. Ich zitiere aus dem ersten Bericht, der dann von den Kolleginnen und Kollegen selbst geschrieben wurde:

Unter Integration wurde verstanden eine Normalisierung der spezifischen Hilfen und der spezifischen Zugänge zum Lerngegenstand. Nicht das Kind wurde normalisiert, sondern die Hilfen wurden normalisiert. Also allen Kindern im Rahmen institutioneller Bedingungen entsprechende Möglichkeiten, Mittel und Hilfen bereitzustellen und ihnen zu ermöglichen, im gleichen Rahmen zu lernen wie andere Kinder. Wir sind dabei auf vier Problembereiche gestoßen, die sich als Kernprobleme integrativer Arbeit erweisen:

-          Zunächst das Verhältnis Pädagogik - Therapie. Es gilt, die historisch auseinandergefallenen Einzelzugriffe auf den behinderten Menschen - solange sie historisch auseinandergefallen sind, muß man sie als Einzelzugriffe auf ihn kennzeichnen - zusammenzuführen in einer gemeinsamen Kompetenz, die es eben schafft, die spezifischen Zugänge zum Lerngegenstand auch wirklich zusammen zu organisieren, d. h. Pädagogen, Beschäftigungstherapeuten, Krankengymnasten, Sprachtherapeuten mußten prinzipiell und grundsätzlich umlernen, jede spezielle und besondere Therapie ist aufgehoben worden, in den Erziehungsalltag als Wissen mit eingegangen.

-         Zweitens war es notwendig - das ergab sich schon aus dem Vorlauf, um die bis dahin extrem stigmatisierten Kinder überhaupt so in Schulen zurückzugeben zu können, daß die Schulen nicht widersprechen konnten - eine subjektorientierte Verlaufsdiagnostik zu entwickeln, weg von allen Zuschreibungen, hin zum Erspüren und Aufweisen von Kompetenzen. Das geschah in einem solidarischen Prozeß, an dem alle Erzieherinnen und Erzieher und auch die Eltern regelmäßig beteiligt waren, in dem erst einmal alle Kompetenzen eines Kindes über lange Zeit systematisch gesammelt wurden.

-         Drittens, es geschah über innere Differenzierung, nicht in dem Sinne, daß für jedes Kind jetzt der einzelne Lernschritt genau festgeschrieben wurde, sondern daß in Projekten über alle Möglichkeiten nachgedacht wurde, wo Kinder auf ihrem Lernniveau einen Einstieg finden konnten. Etwa das Projekt „Hühnerei“, das vom Ansehen von geschlachteten Hühnern bis zum Besuch auf dem Bauernhof, über Eier kochen und braten u.ä. ging, oder das Projekt „Milch“, das eine ähnliche Breite hatte. Es war zu analysieren, ob etwa ein schwer in der sensorischen Integration geschädigtes Kind beim Besuch im Kaufladen noch Anreize haben könnte, an denen es sich entwickeln könnte. Und in dem Sinne ist über alle Möglichkeiten nachgedacht worden, um uns die Augen zu öffnen. Es waren Fragen der Kooperation zu entwickeln, und es zeigte sich, daß die Kinder selbst am kooperativsten waren. Beispielsweise nach einem Besuch auf dem Bauernhof, als ein behindertes Kind dort nur in der Erde gewühlt hatte auf dem Feld und die Kartoffeln gar nicht sehen konnte, hat ein anderes Kind vom Kindergarten noch eine ganze Zeit mit ihm das Kartoffelnsammeln gespielt, bis es auch selber einen Begriff davon entwickelt hatte. Es zeigte sich, daß im Kern dieser Pädagogik eine Individualisierung stand, in der der Erzieher zum Vermittler zwischen den Möglichkeiten des Kindes und dem gesellschaftlichen Reichtum werden mußte, im Sinne der Erschließung dieser Totalität von Entwicklungsmöglichkeiten. Es ergab sich

-         viertens ein neuer Typ von Elternarbeit, denn durch die Stadtteilorientiertheit - und Bremen-Osterholz, auch „Bremer Manhattan“ genannt, besteht zu großen Teilen aus Hochhäusern, die zum Teil mit in sehr schlechten sozialen Umständen lebenden Familien besetzt sind - ergab sich eine neue Form der Elternarbeit. Denn die traditionelle Form von Elternarbeit der Behindertenpädagogik war die feine Form bürgerlicher Sozialarbeit: Mittelschichtbehindertenpädagogen gingen zu Mittelschichteltern, machten einen Kaffeeplausch, und das ganze blieb belanglos. Als sie dann aber in diese Familien kamen, die von Sozialhilfe lebten, oder wo der Vater plötzlich die Hakenkreuzfahne hinter dem Schrank nach dem zweiten Schnaps hervorholte, mußte sich der Typ der Sozialarbeit gänzlich ändern, er mußte zum Kampf mit den Betroffenen gegen die Bürokratie werden, damit sie und die Kinder überleben konnten.

Das war in kurzen Worten das, was wir erfahren hatten.

Kollege Feuser zeigt in seinem Zwischenbericht (1984), der beim Diakonischen Werk in Bremen verfügbar ist, genau den umgekehrten Weg auf. Er zeigt zwei Prinzipien auf, um die es in dieser neuen Art von Pädagogik geht.

-         Es geht um das, was die bürgerliche Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, nämlich die Herstellung der Einheit des Menschen in der Menschheit und nicht die Verbesonderung von irgendwelchen Menschen als Unmenschen oder Nichtmenschen.

-         Und es geht zum zweiten um die Wiederherstellung der Einheit und der zusammenhanglos gewordenen Mittel und Werkzeuge der Erziehung. So ein Zitat von Edouard Séguin, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die bis heute immer noch beste Geistigbehindertenpädagogik geschrieben hat.

Das von Feuser durchgeführte Projekt wurde also als Regelkindergarten im Stadtteil entwickelt mit freien Zugangsmöglichkeiten für alle Kinder. Das Projekt wurde mit zusätzlichem Personal, Stützpädagogen u.a.m., ausgestattet. Aber über die Personalfragen brauche ich hier im Detail nicht zu sprechen. Im Kern der Forderungen von Feuser wie der unsrigen steht eine basale Pädagogik, die Integration in einer neuen Weise begreift. Ich zitiere Feuser (1986) aus einer späteren Veröffentlichung in der Zeitschrift „Demokratische Erziehung“ (S. 26).

„Was Integration ist, welcher Pädagogik sie bedarf und welche Bedingungen zu ihrer Realisierung zu schaffen sind, kann in wenigen Worten zusammengefaßt werden: Integration meint, daß alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau an und mit einem gemeinsamen Gegenstand spielen und lernen. Integration erfordert eine basale, kindzentrierte, Allgemeine Pädagogik. Sie bedarf curricular einer ‚Individualisierung’ des gemeinsamen Curriculums, didaktisch der Arbeit in ‚Projekten’ und der ‚inneren Differenzierung’ in Orientierung an den Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens. Sie folgt fachwissenschaftlich sachstrukturellen Gesetzmäßigkeiten, entwicklungspsychologisch den Tätigkeitsstrukturen des lernenden Kindes und Schülers und führt methodisch beide Aspekte, auf die jeweils konkreten Handlungsstrukturen orientiert, unter Gewährung entsprechender pädagogischer, behindertenpädagogischer und therapeutischer Hilfen zusammen. Integration bedarf organisatorisch der Realisierung der Regionalisierung der Lernorte, der Dezentralisierung der Hilfen und der Teamarbeit bzw. des Teamteaching aller Fachkräfte und deren Bereitschaft zur Erweiterung ihrer Handlungskompetenz im Sinne des ‚Kompetenztransfers’“. Soweit Feuser.

Ich spreche nicht nur von zwei Einzelprojekten.

Das Deutsche Jugendinstitut hat systematisch die Forschungen zum Kindergartenbereich zusammengefaßt. In einer neu erschienenen Publikation von Lore Miedaner (1986) wird von 60 Kindergärten berichtet, die ihnen bekannt waren zu Beginn der Untersuchung. Davon haben die Autoren 30 genauer untersucht. Gegen Ende der Untersuchung waren ihnen 145 Kindergärten bekannt. In diesen Kindergärten wird mit sehr unterschiedlichen Ansätzen gearbeitet: Montessori, Situationsansatz, aneignungstheoretischer Ansatz, Waldorf-Pädagogik, auch psychotherapeutische Ansätze.

Im Kern zeigte sich in der Auswertung der Gesamtergebnisse: Das Problem sind nicht die behinderten Kinder, das Problem sind die schwierigen Kinder. Und die kommen meistens nicht mit dem Etikett „behindert“ in die Kindergärten. Die Ergebnisse lassen insgesamt Aussagen zu, ich zitiere: „daß das Zusammenleben behinderter und nichtbehinderter Kinder in gemischten Gruppen weitgehend problemlos verläuft und daß es darüber hinaus aus unterschiedlichen Gründen auch sehr anregende und günstige Lernbedingungen für behinderte und nichtbehinderte Kinder bietet.“ (S. 306)

Das ganze hat Auswirkungen auf die Mitarbeiter. Nicht, daß grundsätzlich andere Anforderungen gestellt würden, aber gewisse Bereiche erhalten mehr Bedeutung und erfordern wesentlich mehr Kenntnisse und differenzierte Fähigkeiten. Teamarbeit wird erforderlich, insbesondere auch zwischen verschiedenen Berufsgruppen; ebenso wird eine intensivierte Elternarbeit erforderlich. Soweit die Zusammenfassung, die gänzlich auch unseren eigenen Erfahrungen entspricht.

Zum Schulbereich liegen, gerade erschienen, zwei wichtige Neuerscheinungen vor: Zum einen der Auswertungsbericht „Integrationsklassen in Hamburg“ (Wocken und Antor 1987), der Rechenschaft ablegt über insgesamt 22 Integrationsklassen mit 308 nichtbehinderten und 71 behinderten Kindern, von denen einzelne abereits vier Jahre laufen; zum zweiten der Bericht von Feuser und Meyer (1987) über den Integrationsversuch an einer Grundschule in Bremen in zwei Klassen. Ich werde auf beide und ihre Ergebnisse kurz eingehen. Der Hamburger Versuch geht von einem bestimmten pädagogischen Konzept aus, das in Integrationsklassen realisiert wird, die entweder nach dem 11 + 4 - Schlüssel zusammengesetzt sind, oder nach dem 18 + 2 - Schlüssel, jeweils sog. nichtbehinderte und sog. behinderte Kinder. In diesem Versuch arbeiten insgesamt drei Pädagogen mit jeweils unterschiedlicher Zeit in den Klassen. Das pädagogische Konzept ist im wesentlichen reformpädagogisch orientiert und umfaßt sieben Punkte (S. 72 ff):

Individualisierung

-         Wechsel gemeinsamer Arbeitsphasen mit offenem Unterricht

-         Binnendifferenzierung (d. h. die Schulklasse wird zur Schulwohnstube)

-         ganzheitliches Lernen mit Kopf, Herz und Hand

-         den besonderen Förderungsbedürfnissen behinderter Kinder muß durch entsprechende sonderpädagogische und therapeutische Maßnahmen Rechnung getragen werden, möglichst in integrativerWeise

-         kooperative Unterrichtsgestaltung, d. h. Zusammenarbeit der Pädagogen

-         Förderung der Gemeinsamkeit durch gemeinsame Lebens- und Lernsituationen.

An Fortschritten berichten Wocken und Antor:

1.      Die Lebens- und Lernfreude der Kinder hat sich erhalten und ist gestärkt worden.

2.      Die Kinder leisten genauso viel, wie ihre Alterskameraden in anderen Grundschulklassen.

Die Hamburger Kollegen haben den Verdienst für sich, das genau untersucht zu haben; sie haben insgesamt 20 Klassen parallelisiert mit entsprechenden Grundschulklassen bzw. mit der altersgleichen Eichstichprobe von Tests und haben für Lesenlernen, Leseverständnis und Mathematik jeweils bessere Werte in den Integrationsklassen gefunden. Sie interpretieren das auf dem Hintergrund verschiedener Hypothesen über gemeinsame Erziehung von Behinderten und Nichtbehinderten (S. 297 ff):

-         der Deprivationshypothese, die besagt, der Mittelwert der Integrationsklasse sinkt ab - die Deprivationshypothese kann also klar verworfen werden

-         der Nivellierungshypothese, das ganze sei eine Gleichmacherei, ein geringerer Mittelwert und eine geringere Streuung der Leistungen würde resultieren - dieseHypothese kann aufgrund der Ergebnisse ebenfalls eindeutig verworfen werden

-         der Homogenisierungshypothese, ein gleicher Mittelwert bleibe zwar bestehen, aber eine geringere Streuung trete auf; d. h. die höher Begabten würden nivelliert - auch diese Hypothese kann eindeutig aufgrund des empirischen Materials verworfen werden.

Es bleiben zwei Hypothesen:

-         Die Optimierungshypothese, d. h. für alle Kinder hat der Unterricht in integrativen Klassen deutliche Vorteile - alle Befunde gehen in diese Richtung.

-         Die Autoren interpretieren aber konservativ und entscheiden sich für die Patthypothese: Integrative Erziehung fördert auf jeden Fall genauso gut wie die bisherige separierte Erziehung - und zwar die unterschiedlich daran beteiligten Personengruppen.

Das also zur Frage, daß diese Kinder genauso viel leisten wie ihre Alterskameraden. Die Aufklärung der Varianzanteile, woher nun das bessere Lernen herkommt, zeigt, daß es zwar zum einen schulformspezifische Varianzanteile gibt, daß es aber zum anderen schlechte Integrationsklassen wie schlechte Grundschulklassen gibt und gute Grundschulklassen und gute Integrationsklassen; d. h. ein Großteil der Varianz also durch die inneren Bedingungen verursacht ist (S. 301).

Wir haben viel darüber nachzudenken, wie wir diese reformpädagogischen Prinzipien in allgemeiner Form als eine Humanisierung der Schule in der Pädagogik verankern können.

Weiterhin werden als Fortschritte genannt: Die behinderten Kinder haben in den Integrationsklassen Lern- und Entwicklungsfortschritte gemacht, die niemand erwartet hatte. Das kann ich aus meiner persönlichen Erkenntnis im Kindergartenbereich nur bestätigen. Auch hier wurden unsere Erwartungen bei weitem übertroffen.

Ich will dies an einem empirischen Datum dieser Untersuchung ausdrücken: Normalerweise haben wir große Vorbehalte: „Geht denn das, geistig behinderte Kinder in Integrationsklassen?“ Von den 71 behinderten Kindern in Hamburg waren über 30 geistig behindert. Man hat nun die Klassen untersucht und hat die Eltern befragt bezüglich der Integrierbarkeit von Kindern. Man hatte also teilweise Eltern, wo geistig behinderte Kinder in diesen Klassen waren, und andere, wo keine waren, und ebenso bei verhaltensgestörten Kindern.

Während vorher die Eltern die Integration verhaltensgestörter Kinder als gut, mit einer ganz leichten Tendenz nach sehr gut beurteilt haben, also Eltern, die keine konkreten Erfahrungen hatten, haben Eltern, die unterdessen Erfahrung mit verhaltensgestörten Kindern gemacht hatten, ihre Integrationsmöglichkeit zwischen schwierig und gut liegend angesprochen.

Bei geistig behinderten Kindern war aber der Trend genau umgekehrt. Während Eltern ohne Erfahrung vorher die Integrationsfähigkeit geistig Behinderter als schwierig bis gut ansprachen, ist sie im Durchschnitt glatt mit gut angesprochen worden von Eltern, die Erfahrung hatten (S. 174). Auch das bestätigt die Aussagen Miedaners: Die schwierigen Kinder sind das Problem, nicht die geistig behinderten Kinder.

Dies waren also die Fortschritte, die hervorzuheben sind.

Es ergaben sich zwei Arten von Problemen: Das eine habe ich schon genannt, daß es nicht die behinderten Kinder waren, die Sorgen makchten, sondern die sog. nichtbehinderten Kinder; und das zweite Problem betrifft nicht die Kinder, sondern betrifft die Erwachsenen. D. h. die Fähigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Kooperation der Pädagogen ist sozusagen die „Nagelprobe“ für das Gelingen von Integration. Und das wirft besondere Probleme auf.

Ich gehe nun auf die Untersuchung von Feuser und Meyer ein, die diese Fragen in einer besonderen Weise thematisiert haben.

In dieser Untersuchung wird ebenfalls umfassend auf den Ansatz der Reformpädagogik zurückgegriffen, verbunden mit einer entwicklungspsychologischen Theorie, nämlich der „Aneignungstheorie“. Der Versuch läßt sich kennzeichnen durch keinerlei Ausschluß von Kindern - auch sog. Schwerstbehinderte sind in dem Versuch - durch Regionalisierung, durch spezielle Hilfen am Ort des Lernens, dadurch, daß die therapeutischen Hilfen generell in den Unterricht integriert sind, daß ein Teamteaching zwischen Grundschullehrer und Sonderschullehrer stattfindet, daß eine sehr sorgfältige und intensiv entwickelte innere Differenzierung auf der Basis gemeinsamer Unterrichtsgegenstände und unterschiedlicher Wege der einzelnen Schüler zu den Lernzielen vorgenommen wird (S. 36 ff).

Die innere Differenzierung orientiert sich im wesentlichen an Überlegungen von Klafki und Stöcker, geht aber wesentlich über sie hinaus und beinhaltet drei Aspekte, unter denen Erziehung und Unterricht versucht wird zu entwickeln:

Einmal den Aspekt der Unterrichtsphasen, unter denen innerlich differenziert werden muß, also Aufgabenstellung, Erarbeitung, Festigung, Anwendung. Zweitens die Differenzierungsaspekte nach der stofflichen Seite hin: Stoffumfang, innere Komplexität und Grad des Stoffes - für Kolleginnen und Kollegen, die in der Didaktik zu Hause sind, das greift etwa Überlegungen auf, wie sie von Feuerstein oder von Kutzer in die Diskussion gebracht wurden, also eine neue logische Strukturierung der Lerngegenstände - Anzahl der notwendigen Durchgänge beim Lernen, Notwendigkeit direkter Hilfe oder Grad der Selbständigkeit, Art der inhaltlichen und methodischen Zugänge, der Vorerfahrung und Kooperationsfähigkeit der Kinder. Und schließlich als weitere Ebene der inneren Differenzierung sind die Aneignungs- und Handlungsebenen zu beachten, daß Kinder auf unterschiedlichen entwicklungspsychologischen und lernpsychologischen Etappen stehen. Dieses Ganze wird versucht, im Projektunterricht zusammenzufassen: Hereinholen der Lebenswelt in die Schule. Kernpunkt dieser inneren Differenzierung ist die Individualisierung des kindlichen Lernens.

Daraus ergeben sich Folgen, die Feuser und Meyer in zweierlei Hinsicht kennzeichnen:

Einerseits: Lehrerinnen und Lehrer müssen sich sehr viel differenzierter mit Entwicklungspsychologie, Persönlichkeits- und Lernpsychologie auseinandersetzen, um das sehen zu können, was unter ihren Augen passiert. Andererseits: Mystifizierungen müssen aufgehoben werden - hier gebrauchen Feuser und Meyer einen Begriff von Laing aus der Psychiatrie-Diskussion - Mystifizierungen sind auf andere gerichtete Handlungen, die der eigenen Sicherheit dienen, etwa die Zuschreibung, ein Kind kann nicht lernen, weil es irgendeine Form von Behinderung hat. In der Praxis zeigte es sich, daß einhergehend mit diesen Zuschreibungen Handlungsweisen der Lehrer erfolgten, die gerade den schlechteren oder behinderten Kindern weniger Orientierung geben als den guten Kindern. Das ist durch Interaktionsanalysen in diesem Versuch sehr sorgfältig dokumentiert worden.

Die Hauptprobleme waren auch hier die Verhaltensstörungen von nichtbehinderten Schülern. Für die Gruppe der Lehrer hatten Feuser und Meyer folgende Probleme herausdifferenziert, über die nachzudenken ist und die zu beachten sind (S. 179).

Es wurde festgestellt, daß mit Eingang des Versuchs deutliche Defizite bestanden: eine fehlende Zielübereinstimmung zwischen den verschiedenen Lehrern und Therapeuten, eine mangelnde gemeinsame Reflexion, eine sehr problematische professionelle Handlungsfähigkeit, sowohl was die Sonderschullehrer betraf und was die Grundschullehrer betraf. Beide Gruppen waren von der Ausbildung her diesen Bedingungen, die auf sie zukamen, in keiner Weise gewachsen; sehr einseitige berufliche Erfahrungen, die ja damit zusammenfallen; keine Anwendbarkeit entwicklungs- und lernpsychologischer Grundverständnisse und schließlich eine sehr begrenzte psychische Stabilität.

Was war das Wesentliche der Prozesse, in denen nun begonnen hat, sich eine Teamarbeit zu entwickeln? Im Kern war es eine gemeinsame Wertorientierung für die Lehrerinnen und Lehrer, Pädagoginnen und Pädagogen; entscheidend war, daß gemeinsame Vorstellungen entwickelt wurden über die Bedeutung von Behinderung, Segregation und Isolation, über das Wesen menschlicher Natur und menschlicher Entwicklung, über das Wesen menschlichen Lernens, über das Wesen menschlicher Kooperation, Interaktion und Kommunikation (S. 175). Und erst an zweiter Stelle stand Wissen über Didaktik, das Curriculum allgemein, wie über Fachdidaktik speziell.

Kernpunkte, die neu begriffen werden müssen, fassen Feuser u.Meyer so zusammen: Die Kolleginnen und Kollegen müßten lernen, die Menschen in all ihren Lebensäußerungen als Ganzheit zu begreifen, grundsätzlich Individuen als handelnde Subjekte und nicht als Objekte des Unterrichts zu sehen, grundsätzlich Menschen als soziale Wesen mit sozialen Bedürfnissen und sozialen Kontakten zu sehen, Beeinträchtigungen nicht im Wesen des Menschen zu suchen, sondern Beeinträchtigungen als Bedingungen seiner Existenz zu bestimmen, wobei die Behinderung erst durch den sozialen Ausschluß und die Verbesonderung entsteht. Qualifikationen, die sich daraus entwickelten, beschreiben Feuser und Meyer so: Es entstanden Fähigkeiten, Widersprüche zu erkennen, anzunehmen und weiter reflektieren zu können. Zweitens, es ging darum, wirksame Handlungsfähigkeiten zu bewahren, auch über Dauer und nicht nur kurzfristig zu handeln. Drittens, es ging um Fähigkeiten, so zu handeln, daß die Kolleginnen und Kollegen weder aggressiv noch regressiv gegenüber den Kollegen oder den Kindern handelten.

Fassen wir das zusammen: So heißt in der Tat (und ich komme zum letzten Teil meiner Ausführungen) Integration , die Widersprüche auf ein höheres Niveau zu heben. Es verlangt in spezieller Hinsicht als unmittelbar pädagogische Anforderung, entwicklungs- und persönlichkeitstheoretische Dimensionen in ganz neuer Weise zu durchdenken. Es verlangt Kooperation der Pädagogen miteinander, wo bisher Isolierung und Konkurrenzneid gestanden haben. Es verlangt die Entwicklung kooperativer Beziehungen mit den Eltern. Es verlangt eine Pädagogik und Didaktik, die in jeder Beziehung dem dahinterstehenden humanen Menschenbild entspricht.

Allgemein drückt Feuser das so aus: Es geht um eine Änderung der Verhältnisse zwischen den Verhaltensweisen, für die BRD bezogen, um eine „geistige Entnazifizierung“ der Sonderpädaogik (1986, S. 27).

Feuser unterscheidet zwei Möglichkeiten, Motive zu entwickeln, und zwei Möglichkeiten, Ziele zu bilden, wenn von Integration geredet wird (1986, S. 26 f).

Das eine Motiv, Integration zu betreiben, ist, weil sie eine Mode geworden ist und weil man durch sie Mittel sparen möchte. Das andere Motiv, Integration zu betreiben, ist, weil der soziale Ausschluß menschenunwürdig ist und bekämpft werden muß. Das eine Ziel ist ein humanitäres, ein wohltäterisches, das von oben nach unten die Integration als Wohltat spendet und sofern diese nicht mit Dank erwidert werden, sozial ausgrenzt, das andere Motiv ist das einer wirklich humanen Pädagogik und eines humanen Umgangs zwischen allen Menschen.

Wir kommen da noch zu jener doppelten Anlage des Wesens von psychischer Krankheit und Behinderung, die? Franco Basaglia (1984, S. 15) einmal so ausgedrückt hat, als doppelte Realität des psychisch kranken Menschen, der einerseits ein Ausgeschlossener und ein Geächteter ist, und andererseits ein kranker Mensch mit einer (dialektischen und ideologischen) psychopathologischen Problematik. Das letztere bedeutet, daß der in Institutionen der Gewalt in immer neuen Stufen des Ausschlusses immer weiter Ausgeschlossene restlos seiner eigenen Geschichte beraubt wurde. Am deutlichsten ist das in der Psychiatrie, aber auch in einer Schule, die bloß das Curriculum abhakt und nicht mehr nach den Bedürfnissen der Kinder fragt; auch sie beraubt der eigenen Geschichte. Und in dem Sinne schließt sich an das Durchdringen dieser beiden Ebenen auch eine Neubestimmung der Tätigkeit der Pädagogen an: Wenn Pädagogen anfangen - und jetzt komme ich zur Dialektik - für eine Humanisierung der bestehenden Schulverhältnisse einzutreten, dann werden sie bald selbst bemerken, wie sie von den bisherigen Schulverhältnissen zu Befriedungsverbrechen mißbraucht worden sind, ihre eigene Persönlichkeit nicht in der Reichhaltigkeit und Totalität entwickeln konnten, die ihnen zusteht. Und wer einmal in der Integrationsklasse mitgesessen hat, oder im Kindergarten, und die Zärtlichkeit des Umgangs von sog. behinderten und nichtbehinderten Kindern beobachtet hat, der weiß, von was ich spreche und was Pädagogen als Entwicklungsmöglichkeit vorenthalten wird.

In dieser Dialektik liegt dann natürlich auch eine gewisse Logik, und der Widerspruch wird auf eine höhere Ebene gehoben. Die Pädagogen werden zwangsläufig und in gewisser Weise diejenigen, die mit den Betroffenen zusammen, und nicht nur stellvertretend für sie (es ist zu sehen, daß es wirklich die Bedürfnisse der Betroffenen sind), das durchzukämpfen haben gegen eine Gesellschaft, die etwas ganz anderes will. Das heißt, die Pädagogen werden sich zunehmend Befriedungsverbrechen verweigern müssen und fragen müssen, wer sie so bisher zum Handeln gezwungen hat. Sie werden erkennen, daß diejenigen, die immer von Verantwortung geredet haben, nichts anderes als Macht gemeint haben, und sie werden erkennen, daß die, die immer von Elitebildung und unerträglicher Gleichmacherei geredet haben, nicht anders sind als die unerträglichen Gleichmacher, die alles in ihr Prokrustesbett hineinzwängen. Ich will nichts weiter zu dem Widerspruch sagen. Es soll sich nur jeder klar sein, der sich ernsthaft auf diese Arbeit einläßt, daß er zu diesem Widerspruch wird Stellung nehmen müssen. Es ist einer der vielen Widersprüche, zu denen wir Stellung nehmen müssen, wenn wir überleben wollen. Es geht um neue Formen des Denkens - weder die atomare Bedrohung noch die Zerstörung der Natur, noch die Zerstörung der menschlichen Natur lassen es zu, daß wir überleben, wenn wir uns bloß auf das Überleben einstellen.

 

Literatur

ALPERS, Wilfriede; HOLSTE, U. u.a.: Integration. Erste Erfahrungen nach 6 Mona-ten gemeinsamen Spielens und gemeinsamen Lernens. Hrsg: Kindertagesstätte der Spastikerhilfe e.V., Osterholzer Heerstr. 194, 2800 Bremen 44, Bremen 1983

BASAGLIA, F.: Was ist Psychiatrie? Frankfurt/M: Suhrkamp 1973

BASAGLIA, F.: Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlosse- nen. Frankfurt/M: Suhrkamp 1974

BASAGLIA, F. u.a.: Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellek- tuellen. Frankfurt/M: EVA 1980

FEUERSTEIN, R.: Instrumental Enrichement. Baltimore: Univ. Park Press 1980

FEUSER, G.: Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Kindertagesheim - Ein Zwischenbericht. Hrsg.: Diakonisches Werk Bremen e.V., Rembertistr. 64, 2800 Bremen, Bremen 1984

FEUSER, G.: Integration: Humanitäre Mode oder humane Praxis? Demokratische Er- ziehung 12 (1986) 1, 22 - 27

FEUSER, G. und MEYER, Heike: Integrativer Unterricht in der Grundschule - Ein Zwischenbericht. Solms-Oberbiel: Jarick 1987

HOLSTE, U.: Sprachaneignung als Ausbildung sprachlicher Handlungskompetenz: Überlegungen zum Verhältnis von Sprache, Kommunikation und Modalität kommunika- tiver Zeichensysteme. Jahrbuch f ür Psychopathologie und Psychotherapie 4 (1984) 62 - 80

KLAFKI, W. und STÖCKER, H.: Innere Differenzierung des Unterrichts. In: W. Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz 1985, 119 - 154

KUTZER, R.: Strukturorientierter Mathematikunterricht in der Lernbehindertenschule. In: H. Probst (Hrsg.): Kritische Behindertenpädagogik in Theorie und Praxis. Solms-Oberbiel: Jarick 1979, 29 - 62

MARX, K.: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. In: K. Marx u. F. Engels, Werke (MEW) Bd. 42, Berlin/DDR: Dietz 1983

MEYER-PROBST, B. und TEICHMANN, H.: Risiken für die Persönlichkeitsentwicklung im Kindesalter. Leipzig: Thieme 1984

MIEDANER, Lore: Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder. M ünchen: Deutsches Jugendinstitut 1986

SEGUIN, E.: Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode. Wien: Gräser 1912

SEIDLER, Dietlind: Integration von Behinderten. Grundpositionen, Thesen, Auswertung. Jahrbuch f ür Psychopathologie und Psychotherapie 4 (1984) 80 - 113

STRAUSS, F.J.: Gebote der Freiheit. M ünchen 1980

WERNER, Emmy: Milieueinfl üsse im Leben von Kindern mit Entwicklungsstörungen. Referat auf dem 1. Europäischen Seminar f ür Entwicklungsneurologie, Hamburg 1983

WIECZERKOWSKI, W.: Begabte Kinder finden und fördern- Ein Ratgeber für Lehrer und Eltern. Bonn: BMBW 1985

WOCKEN, H. u. ANTOR, G.: Integrationsklassen in Hamburg. Solms-Oberbiel: Jarick 1987

 



[1] Vortrag anläßlich der Ausstellung „Was heißt schon normal“ des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien am 1.6.1987. Erschienen unrer dem Titel: Machbar und erfolgreich. Separierte oder Integrierte Erziehung. Pädagogische Zeitschrift für demokratische Lehrerinnen und Lehrer (Wien) (1989) 5, 16 u. 17