Überlegungen zur Zukunft der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie[1]

 

Wolfgang Jantzen, Universität Bremen

 

 

„Zu den Grundpfeilern der modernen politischen Theorie gehört die These, dass Demokratien, denen es an einem in ethischen und religiösen Überzeugungen verankerten Wertebewusstsein fehlt, Gefahr laufen, ihren Zusammenhalt und ihre Einheit und zu guter Letzt auch ihre Lebensfähigkeit zu verlieren.“                                                       (Benjamin Barber 2003, 205)

 

„Die Aufgabe, die der Messianismus der modernen Politik zugewiesen hat – eine menschliche Gesellschaft zu denken, die nicht (nur) die Gestalt des Gesetzes hätte – harrt noch derer, die sie übernehmen.“

(Giorgio Agamben 2001, 126)

„Ohne den Stoß der Gerechtigkeit von unten, wurden keine Menschenrechte installiert, ohne Revolutionstribunal, ja bereits ohne Gerichtshof über die Nazis ...gibt es keine freigelegten Humanitäten.“

(Ernst Bloch 1985a, 231)

 

Vorbemerkungen:

Die Zeit ist aus den Fugen, wir leben in täglich neu erfahrenen Widersprüchen:

-        Inhaltliche Qualitätssicherung in Behindertenhilfe und Psychiatrie im Sinne eines humaneren, an Menschen- und Bürgerrechten orientierten Handelns steht täglich neuen Einschränkungen gegenüber – hierüber informiert Ihr Jahresbericht ausführlich (Diakonisches Werk Bayern 2003)[2].

-        Heime und Anstalten, so wissen wir unterdessen, sind keine angemessenen Wohnformen – aber an unserer nationalen und europäischen Peripherie existieren und entstehen täglich neue menschenunwürdige Verhältnisse in Lagern für Armutsflüchtlinge.

-        Im Namen von Menschen- und Bürgerrechten in Afghanistan und im Irak werden Menschen- und Bürgerrechte, nicht nur in Guantanamo, gänzlich außer Kraft gesetzt.

-        Der Sozialstaat soll verwirklich werden, indem der freie Markt für Dienstleistungen eingeführt wird und gute Arbeit durch wohlfeile Billiganbieter, die sich als Konkurrenz anbieten, mehr und mehr und mehr gefährdet wird – ganz abgesehen von der Strategie einzelner Verbände, hier mithalten zu wollen.

-        Ideologen der Wohlfahrtsverbände – so etwa in der Diskussion um die Notwendigkeit einer Heimenquête – bezeichnen die MitarbeiterInnen als „hochmotiviert“ und „engagiert“, aber an den Arbeitsplätzen herrschen häufig Frust über die Loyalitätsverweigerung der Oberen, Arbeitsunzufriedenheit mit erheblichen Fluktuationsraten, wenn nicht gar Mobbing und des öfteren auch Bossing.

-        Verbände beschweren sich über das fehlende politische Interesse der MitarbeiterInnen, MitarbeiterInnen hingegen über das fehlende pädagogisch-therapeutische bzw. menschliche Interesse der Leitungen.

-        Einrichtungen sollen lernende Organisationen werden, aber ein Gesellschaftsrecht, das alle Macht beim jeweiligen Geschäftsführer der gGmbH zentriert, bringt diesen zwischen pädagogischem Wollen und ökonomischen Zwang in die Situation eines hohen Risikofaktors für die Realisierung von Lebensqualität.

Dies alles sage ich nicht in der Absicht moralischer Belehrung oder Besserwisserei, wohl aber aus der Perspektive eines Ihnen wohlgesonnenen Wissenschaftlers und Bürgers. Ich habe mich dem Alltag in einer diakonischen Großeinrichtung mehrere Jahre mit ein bis zwei Tagen in der Woche ausgesetzt. Und bei meinem letzten Vortrag vor Ihrer Versammlung (Jantzen 1997)[3], waren es Prozesse der De-Institutionalisierung, die in Gang gesetzt und in Gang gehalten werden müssen, über die wir diskutiert haben. Prozesse also, für die sich in dem gerade erschienenen Heft Ihrer Zeitschrift „Orientierung“ (H. 4/2003) nicht nur der Leitartikel (Kottnik 2003) stark macht.

Wenn wir über Zukunft reflektieren, müssen wir über beides reden: Über die Mächte, die mögliche Zukunft einschränken und verhindern, aber auch über den Zustand unserer eigenen Kräfte und über unsere Möglichkeit, uns selbst und die uns verbindende gemeinsame Sache verändernd in die Waagschale zu werfen.

„Nie zuvor hat eine Epoche eine solche Neigung gezeigt, alles zu ertragen und zugleich alles unerträglich zu finden“ (2001, 118) so der italienische Staatsphilosoph Giorgio Agamben, und, sicherlich nicht nur beziehbar auf die italienischen Verhältnisse: „Da ist keine Autorität und keine staatliche Gewalt, die jetzt nicht die eigene Leere und eigene Verworfenheit entblößte.“ (119)

In diesen entblößten und demokratisch entleerten politischen Raum hinein gilt es wieder Sprachfähigkeit und politische Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen im Sinne einer von den Bürgern gestalteten demokratischen Republik, denn res publica, das ist die öffentliche Sache, ist es, die im Kontext der Globalisierung, z.T. als nationales und internationales Demokratiedefizit, zunehmend unter die Räder gerät, so Benjamin Barber, Präsidentenberater der Regierung Clinton und einer der prominentesten Politikwissenschaftler der USA.

Im Hinblick auf diesen Prozess der Entdemokratisierung sind geistig Behinderte und psychisch kranke Menschen, die bis in die jüngste Zeit ohnehin in ihren Bürger- und Menschenrechten ganz erheblich eingeschränkt waren, erneut in höchster Weise gefährdet, unsichtbar zu werden, aus dem öffentlichen Raum zu verschwinden.

Ökonomische Globalisierung und ihre Folgen

„Der radikal asymmetrische Charakter der Globalisierung gab dem Kapitalismus die Chance, aus dem Käfig des demokratischen Nationalstaats auszubrechen, sich der Aufsicht demokratischer Institutionen zu entziehen und sein Heil in räuberischen Praktiken und globaler Anarchie zu suchen“ (Barber 2003 175 f), während die Demokratie sich noch im „Korsett des Nationalstaates“ befindet.

Globalisierung ist gegenwärtig ein Prozess, innerhalb dessen am einen Pol eine weltweite, nationenübergreifende Selektion und Konzentration von Großkonzernen, Großbanken und Superreichen stattfindet und am anderen Pol eine zunehmende Verarmung, Ausgrenzung, Zerstörung von Mensch, Natur und Gesellschaft.[4] Sie ist ein Prozess, der zwar wesentlich von den USA ausgeht, aber in diese hinein vergleichbare Rückwirkungen hat, wie bei anderen Nationalstaaten: So insbesondere im Bereich der Zivilgesellschaft im Sinne des Zerfalls von sozialer Selbstregierung und sozialem Sinn (Engler 1997), dokumentiert u.a. in der großen Umfrage der New York Times „The downsizing of America“ (1996). Im Kontext dieser Entwicklung ebenso wie im Kontext der viel zu langsamen Internationalisierung von Rechts- und Demokratiebefugnissen bei den Vereinten Nationen sprechen Hardt und Negri in ihrem vieldiskutierten Buch „Empire“ (2002) von einer neu entstehenden transnationalen Souveränität eines nicht verorteten Imperiums, das – wie jeder Souverän – Bedingungen des Ausnahmezustandes setzen kann und setzt. Diesen Ausnahmezustand (vgl. Agamben 2002) spüren wir überall dort, wo bürgerliches Leben auf nacktes Leben reduziert wird: Im Bereich der Altenpflege ebenso wie im Umgang mit Asylbewerbern, in dem zunehmenden Legitimationsdruck sozialer Arbeit ebenso wie in der öffentlichen Verunglimpfung humanen Handelns als „Gutmenschentum“.[5]

Der ökonomische Prozess der Globalisierung ist in seinem Großteil nicht nur Konzentration von Investitionskapital, sondern vor allem von Finanzkapital und hier insbesondere von Spekulationskapital (vgl. Martin und Schuhmann 1997, Huffschmid 1999; jedoch bereits Castro 1983 in seinem Bericht an die VII. Weltkonferenz der paktfreien Staaten). Dieser Zusammenhang von internationaler Produktion und internationalen Aktienmärkten wird möglich durch die informationelle Revolution, die gleichzeitig tiefgreifende Auswirkungen auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsverhältnissen hat.

Spekulationskapital realisiert sich in Warentermingeschäften, im Derivatenhandel, aber auch auf den ganz gewöhnlichen Aktien- und Devisenmärkten. Jederzeit ist der schnelle Zusammenbruch von Spekulationen und Spekulationsblasen möglich, was zur massiven Entwertung von Produktionsstandorten, Regionen, Ländern und Länderverbünden führt (vgl. Martin und Schuhmann 1997). Nicht nur, dass das Spekulationskapital unter Bedingungen der Baisse aus derartigen Bereichen flüchtet, die Akquirierung von neuem Kapital ist zunehmend erschwert, da bei schlechterer Bonität die Kreditvergabe erschwert und die Zinsen wesentlich höher sind. Zudem verschwinden erhebliche Teile dieser Gewinne in einem Bermudadreieck von Kriminalität, nicht nur von Einzelpersonen sondern auch von Banken und Großkonzernen, sowie in Steueroasen.[6]

National hat dies erhebliche Auswirkungen, es sei denn, ein großer Währungsverbund sei in der Lage, hier in gewisser Hinsicht gegensteuernd zu wirken. Insofern ist neben den Prozessen der Globalisierung und der informationellen Revolution auf den Prozess der Europäisierung zu reflektieren. Als vereinter Währungsverbund ist Europa zwar vor Devisenspekulationen nunmehr deutlich geschützt, nicht aber vor der Durchsetzung der tendenziellen Auswirkungen der Globalisierung im innereuropäischen Bereich. So sieht es z.T. aus, als solle es eine Anpassung der Sozialpolitik in der Bundesrepublik an niedere Niveaus der Nachbarländer geben, auf der anderen Seite sind die Vorzüge einer gemeinsamen Europäischen Sozialpolitik offensichtlich, insofern in der Charta der Grundrechte vom 7.12.2000 dort soziale Menschenrechte weitaus besser verankert sind als im Grundgesetz der BRD (Kenzler 2003).[7]

Zunächst aber einmal hat der Prozess der Globalisierung neben gravierenden ökologischen Folgen (vgl. Weizsäcker 1997) massivste Auswirkungen in der Ungleichverteilung von Armut und Reichtum. So besitzen 1% der Bevölkerung in den USA zu Beginn der achtziger Jahre bereits 10% des Einkommens und 20% des Vermögens, heute hingegen 15 bzw. 40%. Diese grandiose Umverteilung von unten nach oben (Leggewie 2003), die für die BRD vergleichbar ist[8], setzt sich verstärkt in den sozialen Bereichen um. Nicht nur weil die Sanierung nationaler Ökonomien sich WTO- und Weltbank-Kriterien verpflichten muss, was häufig die Außerkraftsetzung der Weiterentwicklung sozialer Infrastruktur bedeutet, sondern weil auch seit 1994 der Markt für Dienstleistungen globalisiert und privatisiert wird.

Das 1994 in Kraft gesetzte GATS-Abkommen[9], das bis 2005 realisiert sein soll, öffnet den Dienstleistungssektor – und damit auch die Bereiche Gesundheit, Behinderung, Bildung und Soziales – weltweit für private Investitionen (der Dienstleistungssektor erwirtschaftet 60% des globalen Sozialprodukts, umfasst jedoch nur 20% des Welthandels). GATS, also das General Agreement on Trades in  Services, beinhaltet drei Prinzipien: freien Marktzugang, die Verpflichtung, ausländische Investoren wie Inländer zu behandeln, und die Meistbegünstigung, d.h. die Dienstleister eines Landes dürfen nicht schlechter behandelt werden, als die aus anderen Ländern. Bisher stand es Ländern frei, welche Bereiche sie GATS Regeln unterstellen wollen. Künftig soll sich dies vor allem auf staatliche Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit beziehen, wobei es vom einmal beschlossenen Beitritt keine Rücktrittsklauseln gibt. Auch nichtprivate Dienstleistungsunternehmen müssen sich den Regeln unterwerfen. Nicht konforme Regeln gelten als Vertragbruch, die Rechtsprechung liegt bei der WTO unter Außerkraftsetzung der Funktion nationaler Parlamente. Soweit GATS bereits eingeführt wurde, z.B. in Großbritannien bei der Bahn, in Kanada bei den Krankenhäusern, ist es zur massiven Verschlechterung der Versorgung gekommen.

Neben der Globalisierung und der Europäisierung haben Prozesse der industriellen Revolution massive Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse. Setzt der „Terror der Ökonomie“ (Forrester 1997) auf dem Weg über die Aktienmärkte zunehmend über Rationalisierung Arbeitskräfte frei – Entlassungen führen jeweils zur Steigerung der Aktienkurse – so führt die Einführung der Informationstechnologie zur Reduzierung der mittlere Leitungsebene von Betrieben. Der Korporationsgeist löst sich auf, der als „ehernes Gehäuse“ zugleich Identifikation und Solidarität am Arbeitsplatz schuf, so Richard Sennet (2003). Die Folgelasten sind geringere institutionelle Bindung, d.h. Untermotivierung, Fatalismus (man betrachtet sich als bloßen Befehlsempfänger) und Verlust langfristigen, d.h. rationalen Denkens. Entsprechende Prozesse hat man zu erwarten, wenn man das amerikanische Modell auf Soziales überträgt.

Der besondere deutsche Weg dieser Ausgestaltung im Sinne des Schröder-Blair-Papiers als sozialdemokratischer „dritter Weg“ realisiert sich als aktivierende Sozialpolitik, als Übergang vom „welfare“- zum „workfare“-Staat.[10] Zunächst jedoch einige Worte zu den immer wieder bemühten Argumenten, es gebe keinen anderen Weg zur Reform als jenen der zunehmenden Verarmung und Entrechtung großer Bevölkerungsteile, bisher am deutlichsten zu sehen in der „Operation Sichere Zukunft" in Hessen. Nach Einschätzung von Diakonischem Werk, Caritas, anderen Sozialeinrichtungen und Wissenschaftlern umfasst die Liste vorgesehener Sparmaßnamen fast ein Drittel der freiwilligen Leistungen.[11] Da die freiwilligen Leistungen ohnehin gem. ESGB-II stärker auf den Arbeitsmarkt zentriert werden, zeigt sich hier exemplarisch die Zukunft der Umsteuerungen, verbunden mit kurzfristigen fiskalischen Einsparungen jedoch mit zahlreichen langfristigen gesellschaftlichen Folgen und Folgelasten.

Wie immer haben soziale Diskurse ihre Binnenstruktur und ihre Leitideen: in diesem Fall die Idee der Verknüpfung von Markt und Freiheit und ihre Trennung von dem ursprünglichen Inhalt des Freiheitsbegriffs. Dies zeigt sich vor allem in ideologischen Debatten um „soziale Gerechtigkeit“, die – eine Karikatur ihrer selbst – nur noch auf die Einordnung in die Freiheit des Marktes oder auf die Durchsetzung bloßer Ordnungspolitik bezogen wird (Grafe 2003).[12]

Bei der Setzung dieser Leitidee schrumpft letztlich das gesamte Leben auf den Pol der Ökonomie, Politiker werden willfährige Handlanger der Großkonzerne, statt Demokratie gegen Globalisierung zu stärken, wird der Neoliberalismus als neue Religion nach innen gepredigt. Als ob die ungeheuren marktwidrigen staatlichen Subventionen in die industriellen Großprojekte tatsächlich, wie gestern versprochen, die Arbeitsplätze von heute geschaffen hätten,[13] als ob nicht internationale Spekulationen ständig zur nationalen Vernichtung von Volksvermögen führten. So die Vernichtung all jener auf Zukunfts- und Alterssicherung orientierten Investitionen von Kleinanlegern ebenso im Kontext der Privatisierung der Telekom wie im Kontext der geplatzten Spekulationsblase am „Neuen Markt“. Als ob es nicht möglich sei, die Besteuerung von Spekulationen durchzusetzen, wie dies der Nobelpreisträger Tobin fordert, als ob es nicht möglich wäre, Kapitalflucht in Steueroasen durch internationale Abkommen ebenso zu verhindern wie die progressive Zerstörung der natürlichen Grundlagen unseres Planeten durch ein ökologisches Umsteuern (vgl. Weizsäcker u.a. 1997) bzw. durch einen ökologischen New Deal zu verhindern (Scheer 2002). Natürlich muss dies in der Situation geplünderter öffentlicher Kassen[14] so geschehen, dass soziale Dienste weitaus effektiver zu arbeiten hätten, aber dies gilt auch bezogen auf die exorbitanten jährlichen Einkommenszuwachsraten von Spitzenmanagern.[15]

Auf keinen Fall aber darf der Weg fortgesetzt werden, in den Arbeitslosen die Schuldigen für die Krise zu suchen, die nun im Kern aktivierender Sozialpolitik durch Hartz I-IV und die Veränderungen des Sozialgesetzbuches (Eick 2003, Allex 2003) massiv in die Arbeit – die es für sie nicht gibt – gezwungen werden sollen. Oder sind, wie Helmut Bäcker – einer der profiliertesten deutschen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Sozialpolitik – sarkastisch fragt, die Menschen im Ruhrgebiet im April 2003, Gelsenkirchen hat eine Arbeitslosigkeit von 15,5%, oder in Neubrandenburg (24,8%) besonders faul oder die in Baden Württemberg, z.B. in Göppingen (5,1 %) und Ludwigsburg (5,2%), besonders fleißig? (Bäcker 2003)

Insofern geht sowohl die aktivierende Sozialpolitik der SPD als auch der von Friedrich Merz nach dem Bericht der Herzog-Kommission beschworene „Anfang vom Ende der Sozialdemokratisierung der CDU" sowohl an den Grund- und Menschenrechten der Mehrzahl der BürgerInnen der BRD vorbei als auch von falschen sozialen und ökonomischen Tatsachen aus: Denn letztlich basieren alle Konzepte, Arbeitslosigkeit durch Niedriglöhne, Abbau des Sozialstaats und Ordnungspolitik beheben zu können, davon aus, hierdurch eine Verminderung der Arbeitskosten auslösen zu können. Da die BRD jedoch im europäischen Bereich hinsichtlich der Entwicklung der Lohnstückkosten eine äußerst günstige Position einnimmt (Bäcker a.a.O.), ist dies nicht das Hauptproblem, wohl aber sind die hohe Arbeitslosigkeit verbunden mit einer hohen Schattenwirtschaft höchst problematisch. Doch gibt es auf Grund der im internationalen Vergleich höchst niedrigen Vermögenssteuer deutlichen Bewegungsspielraum für wirkliche Reformen in der Sozial- und Arbeitspolitik[16].

Ich will Sie aber nicht länger mit diesen Zahlen und Einschätzungen und der einen Seite dieser Entwicklung langweilen, sondern im folgenden auf die vielfältigen Widersprüche eingehen, die ebenso die politische Umsteuerung wie jegliche soziale Praxis durchdringen und damit auf die andere Seite der gegenwärtigen Entwicklung verweisen.

Soziale Globalisierung: Sozialer Sinn und Menschenrechte

Menschenrechte können durchaus als säkularisierter Ausdruck von Religion betrachtet werden und ebenso kann die Religion als verhimmelter Ausdruck humaner Beziehungen betrachtet werden. Zumindest gibt es politikwissenschaftlich gute Gründe dazu, bei der Reduktion der Menschenrechtsdebatte auf die grundsätzliche Gleichheit aller Privateigentümer, deren gleiche Freiheit sich im Verkauf von gleichwertigen Waren äußert, diese „technizistische Lösung“ (Nothelle-Wildfeuer 1997) grundsätzlich in Frage zu stellen. Hierfür bedarf eines neuen Diskurses um sozialen Sinn und Menschenrechte, der in einer postsäkularen Gesellschaft aufgrund der religiösen Herkunft der moralischen Grundlagen des liberalen Staates (Habermas 2001), mit religiösen Menschen gemeinsam geführt werden muss.

Schon früher hatte sich das bei Ernst Bloch so gelesen: „Millionenmal wurde der Richterstuhl Gottes, am Ende der Zeit, als Substitut für ein Revolutionstribunal gesetzt, das in realiter nicht zustande kam. Dergleichen wirkte gewiss auch die Verschiebung, aber es wirkte nicht minder als Stachel gegen völlige Kapitulation: Die Posaunen des Jüngsten Gerichts hielten unter anderem wach für die Gerechtigkeit der Marseillaise“ (1985a, 229).

Auf Grund unserer gemeinsamen Verbundenheit, behinderte und psychisch kranke Menschen als Träger aller Bürger- und Menschenrechte anzusehen, und dies ebenso durch unser praktisches wie unser theoretisches und politisches Handeln zu verteidigen, habe ich mich in Vorbereitung auf diesen Vortrag intensiv mit Ihren internen Debatte beschäftigt, insbesondere mit dem Bericht „Zum guten Umgang mit Krankheiten und Behinderungen befähigen“ für die Diakonische Konferenz im Oktober 2002 in Dresden (Diakonisches Werk 2002) sowie der Tagung „Diakonische Profile in der sozialen Arbeit“ vom November 2000 in Berlin (Diakonisches Werk 2001).

In dem Bericht an die Dresdener Konferenz, erarbeitet von einem Ausschuss „Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen und Sozialbereich“, lese ich: „An die Stelle eines Versorgungssystems[17], das individuelle Defizite kompensiert, tritt eine auf die Autonomie, das Selbsthilfepotential und das primäre Netzwerk der Patienten abgestimmte Unterstützung.“ (13) Diese generelle Absage an paternalistisches Handeln wird bekräftigt mit der Aussage „Es geht um [...] eine von den Bürgerinnen und Bürgern gewählte, ausschließlich gesetzlich erzwungene und nicht paternalistisch verordnete Form der Solidarität.“ (28)

Eine solche Praxis ist jedoch nur möglich, wenn es gelingt, sie unter Nutzung unserer bisherigen Erfahrungen gänzlich neu zu begründen. Gelesen auf dem Hintergrund der gemeinsamen Erklärung der beiden großen christlichen Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997 (EKD und Deutsche Bischofskonferenz 1997; URL: http://dbk.de/schriften/DBK6.GemeinsameTexte/ ) fand ich hierbei das Referat von Eckart Pankoke (2001) auf Ihrer Berliner Konferenz sehr aufschlussreich.

Macht und Geld, die sich als die „entscheidenden Kontrollmechanismen moderner Systembildung“ profilieren, entwerten die bislang tragenden und treibenden Steuerungsmechanismen des Dritten Sektors: Kulturelle Kommunikation von Sinn und eine programmatische Ausrichtung solidarischen Engagements (10). Folglich sind Entwicklungsperspektiven nötig, die hierüber hinausragen: sowohl über die Grenzen von Staatsapparaten und Marktmechanismen, als auch über die verhärteten Rationalitätskriterien und Rationalitätsgrenzen von professionalisiertem Wissen, aber auch über traditionell konfessionalistisch repräsentierte Werte hinaus, die in Frage zustellen sind. (7)

„Wenn wir nicht das Paradigma wechseln vom Tauschen zum Teilen, treiben wir in eine sich spaltende Gesellschaft.“ (14) Abgesehen davon, dass wir in dieser Gesellschaft schon lange sind, finde ich die vier Detailaspekte die herausgearbeitet werden, sehr bewerkenswert:

-        Gegenüber der Vorherrschaft des Geldes ist zum Teilen des gesellschaftlichen Reichtums und zum Tauschen von sozialem Kapital überzugehen;

-        gegenüber der Macht ist zu Organisation und Assoziation des Potentials innerer Kräfte überzugehen;

-        gegenüber der Dominanz des Wissens zur Rationalität und Reflexivität der lernenden Organisation

-        und gegenüber den individualistischen Werten zu Evaluationsprozessen und Motivationskräften selbstorganisierten Engagements im Sinne von Tauschen und Teilen als Formen der sozialen Gerechtigkeit.

„Menschsein heißt, sich verantworten zu müssen.“ (ebd.) Dies ergibt sich, wenn ich Pankoke recht verstehe, aus der soziologischen Analyse von Sinnkonstruktionen, eine Analyseebene, die er kurz danach verlässt, um in die Sprache der theologischen Reflexivität zu den Dimensionen von Heil und Rechtfertigung überzugehen, also zu „Heilshorizonten“ zu wechseln. So sehr es soziologisch und philosophisch reizen würde, auch an dieser Stelle die Debatte weiterzuführen, verbleibe ich bei dem Aspekt eines neu zu gewinnenden sozialen Sinns.[18]

Der an dieser Stelle zu erwartende öffentliche Einwand, „Gutmenschentum“ zu betreiben, bzw. das von der ZEIT gegen Habermas’ Paulskirchenrede (Habermas 2001) angeführte peinliche „Einknicken“ gegenüber der Religion (Lau 2001), muss uns nicht im geringsten berühren. Das eine, der Begriff „Gutmensch“, in Österreich hinter dem Wort „Schübling“ beim Unwort des Jahres 1999 an zweiter Stelle platziert, ist Bestandteil eines Diskurses um „political correctness“, erfolgreich betrieben in einem Bündnis von Neuer Rechten und Neoliberalismus (Auer 20021). Und das andere, die Äußerung in der ZEIT, ist Äußerung des in der Bioethik-Debatte hinreichend als solches ausgewiesenen Zentralorgans eines aggressiven Neoliberalismus.[19]

Sozialer Sinn existiert und entsteht praktisch. Er ist der Kern von Demokratie und Zivilgesellschaft. Folgen wir dem Soziologen Zygmunt Bauman, so ist die Grundlage von sozialem Sinn die Übernahme von persönlicher Verantwortung statt technisch-formaler Verantwortung.

Für Bauman, so in dem Versuch einer Soziologie des Holocaust mit dem Titel „Dialektik der Ordnung“ (1992), ist die Shoa nicht Rückfall in archaisches Handeln, sondern ein spezifisch modernes Ereignis, das aufgetreten ist und erneut auftreten kann, wenn bestimmte Dimensionen der Moderne nicht streng von einander isoliert bleiben.

Durch die Trennung der Verantwortlichkeit für das eigene Tun, von dem, was ich aus Disziplin zu dulden habe, beginnt das „moralische Unsichtbarmachen der Opfer“. Die Disziplin wird zur Grundform der Ethik und die persönliche Verantwortung schlägt um in technisch-formale Verantwortung. Ein solcher Prozess, so lässt sich konkretisieren, ist u.a. auch die Basis jenes „Klimas des Stillschweigens“ in deutschen Pflegeheimen, auf das Rolf Dieter Hirsch bei der Tagung der Initiative „Zur Einrichtung einer Enquête der Heime“ verwiesen hat (2002, 24)[20].

Und ein derartiger Prozess ist auch Grundlage der zwangsläufigen Entstehung von struktureller Gewalt in Großeinrichtungen, wie es nicht nur die klassischen Studien von Goffman (1972) oder des Ehepaars Fengler (1994) zeigen, sondern in jüngster Zeit vor allem auch die Arbeit von Sabine Michalek (2000) zu „Gewalt- und Konflikterfahrungen von Menschen mit geistiger Behinderung im Lebenskontext Heim“. Im jeweiligen „Feld der Macht“ Bourdieu 1998, 48 ff.), geraten diejenigen, die sich am „Pol der Ohnmacht“ (Ziemen 2000) befinden, in eine „Vernunftfalle“, innerhalb derer ihre berechtigte Gegenwehr gegen Bindungsverluste und verweigerte Anerkennung – in einer oft nicht mehr deutlich voneinander unterscheidbaren Gegenwart und Vergangenheit – in der Regel als „Verhaltensstörungen“ dechiffriert werden, nicht aber als Ausdruck von Vernunft in einer Vernunftfalle[21]

Gegen dieses moralische Unsichtbarmachen entwickelt Bauman (1995) in seinem Buch „Postmoderne Ethik“, bezogen auf den Philosophen Emanuel Lévinas, eine Konzeption persönlicher Verantwortung, die sich ihrer Ambivalenz durchgängig bewusst ist. Dass „Antlitz des Anderen“ begründet vor allem anderen eine Verantwortung der Ausschließlichkeit, die verlangt, sich zur Geisel des Anderen zu machen. Aber genau diese Übernahme von Verantwortung kann jederzeit in Stellvertretung, Paternalismus, Manipulation oder gar Gewalt umschlagen. Die ständig erneute Justierung dieses Prozesses ist Kern einer postmodernen moralischen Subjektivität. Oder mit Robert Spaemann: „Freiheit ist nicht ein >Kern<, der zurückbleibt, wenn alle Natur unterjocht ist. Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzichtes auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akt des >Seinlassens<. In ihrer gegenseitigen Anerkennung und Freilassung allein überschreiten natürliche Wesen die Natur“ (Spaemann 1975, 968).

Und diese Prozesse wechselseitiger Anerkennung sind konstitutiv für die Entstehung und Aufrechterhaltung von sozialem Sinn, hierin besteht tiefe Übereinstimmung in der Diskussion von Christentum und humanistischem Atheismus von Feuerbach bis Bloch, von der traditionellen Bibelinterpretation bis zu Dorothee Sölles Schöpfungstheologie (Sölle 1975) und „atheistischem Christentum“ (Sölle 1992), von Hegels Phänomenologie bis  zu Bubers dialogischer Philosophie.

Neben dem Umschlagen von persönlicher Verantwortung in Paternalismus, Stellvertretung und technisch-formale Verantwortung identifiziert Bauman (1992) weitere Elemente der Moderne, die zwingend voneinander getrennt bleiben und durch pluralistische Demokratie kontrolliert werden müssen.

An erster Stelle ist dies die Existenz moderner Bürokratien mit den Merkmalen : „Genauigkeit, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Kenntnis der Akten, Kontinuität, Diskretion, Einmütigkeit, strenger Gehorsam, reduzierter Reibungsverlust, sowie Material und Personalkosten“, all jene Aspekte, die gegenwärtig in der Debatte um Qualitätssicherung durch die öffentlichen Hände als „Sachzwänge“ nur allzu oft gegen die Bürger- und Menschenrechte behinderter und psychisch kranker Menschen instrumentalisiert werden. [22]

Ein mit dieser Instrumentalisierung einhergehender und mit der Außerkraftsetzung persönlicher Verantwortung verbundener Aspekt ist die „Dehumanisierung“. Wir erfahren diese im sozialen Raum durch die Reduktion von geistig behinderten Menschen, psychisch Kranken oder Verhaltensgestörten auf biologische Diagnosen, insbesondere im Kontext der ausufernden Verhaltensgenetik und der erneuten Biologisierung der Psychiatrie, oder gegenüber Arbeitslosen oder ausländischen Immigranten in der Reduzierung auf bloßes Schicksal, für das wir selbst keinerlei Verantwortung tragen. Und von dieser Reduktion von sozialer Ungerechtigkeit auf Schicksal oder Natur ist es dann nicht mehr weit zum Populismus der zu der offenen Dehumanisierung von Ausgrenzten und Entrechteten führt zu ihrer Reduktion auf „Sozialschmarotzer“, die sich in der „sozialen Hängematte“ ein schönes Leben leisten. Folgen wir Foucaults Analyse (1993), so findet jeweils an diesem Umschlag vom Wahrnehmen einer individuellen Differenz in Natur oder Schicksal die Konstitution von Rassismus statt, innerhalb dessen der konkrete Einzelne in einen „Fall von“ verwandelt wird, mit all den bevölkerungspolitischen Folgen, die gegen ihn in einem Tribunal ohne Verteidiger realisiert werden.

Entsprechend der Analyse von Bauman (1992) fehlen nur noch Sozialutopien als „gärtnerische Visionen“ (Bauman 1993) einer „Schönen Neuen Welt“, sowie Möglichkeiten bestimmter politischer Gruppen diese Visionen durchzusetzen, verbunden mit einer Einschränkung demokratischer Rechte sowie der Eingebundenheit in nationalstaatliche Abgeschlossenheit, und die Bedingungen der Möglichkeit des Holocaust entwickeln sich erneut.

Zu weit hergeholt meinen Sie? Vergleichen Sie einmal die von Bauman analysierten Elemente mit der Genesis des Balkankrieges oder anderer nationalistischer Exzesse!

Was einzig in der Baumanschen Analyse für das Begreifen der Genesis von sozialem Sinn noch fehlt, ist die massenpsychologische und unbewusste Bindung an Autoritäten.

Diese kann, so entsprechende politikwissenschaftliche Analysen

  1. durch affektive Identifizierung mit einem Führer oder einer nostalgisch überhöhten Vergangenheit erfolgen, so z.B. zu sehen in der „Neuen Rechten“, aber keineswegs nur dort;
  2. durch affektlose Identifizierung mit Sachzwängen – so die neoliberale Variante – oder aber
  3. als affektiv-kooperative Identifizierung, durch Identifikation von Gleichen in kooperativer Weise, so z.B. in der Gleichzeitigkeit der Parolen „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“ bei den Leipziger Demonstrationen im Herbst 1989 (vgl. Neumann 1986, 269; Jantzen 1994, 174 ff.).

Der erste Typus massenpsychologischer Sinnbildung verhindert geradezu zivilgesellschaftliches Handeln im Sinne der inneren Ausgestaltung einer pluralistischen Demokratie - dies gilt für Führeridentifikationen ebenso wie für nostalgische Identifikation.

Die Welt, in der die Nostalgiker, so Barber mit Bezug auf den amerikanischen Kommunitarismus, „aufs neue eine zivile Gesellschaft errichten wollen, ist die Welt, die wir verloren haben, und wenn die zivile Gesellschaft von deren Wiederherstellung abhängt, dann könnte das durchaus das Ende der zivilen Gesellschaft sein." (Barber 1997, 44)

Der zweite Typus, also jener der neoliberalen Bindung an Sachzwänge und dahinter natürlich an Markt und Geld, ist geradezu Bestandteil jener Krise, gegen die er sich als Allheilmittel empfiehlt.

Allein die dritte Form der zivilen Gesellschaft, welche traditionelle gemeinschaftliche Gebundenheit ebenso wie liberalistischen Individualismus und Egoismus hinter sich lässt, ist jene, die eine demokratische Zukunft hat. Sie bildet sich im bürgerlichen Bereich im eigentlichen Sinne. Sie ist besetzt von zivilen Vereinigungen, die sich einerseits als Mitgliedergruppen qualifizieren und andererseits offen und egalitär genug sind. Gleichheit existiert hier in der wechselseitigen Anerkennung und nicht nur als Gleichheit vor einem wie immer gearteten Gesetz. Und die Wahrnehmung dieser Gleichheit gründet sich aus der Selbstverpflichtung gegenüber dem allgemeinen Wohl, so Barber (1997).

Zivilgesellschaft in diesem Sinn ist mehr als Bürgergesellschaft, auf die der in der Krise befindliche Staat in letzter Zeit verstärkt setzt.[23] Bürgergesellschaft bedeutet lediglich von Bürgern vorgehaltene soziale Infrastruktur, dort wo der Staat nicht mehr agieren kann oder will.

Das bürgerschaftliche Engagement ohne gezielte staatliche Unterstützung auf dieser Ebene aufzubauen, wie es letztlich die Enquetekommission „Zukunft des bürgerlichen Engagements“ vorschlägt (vgl. Bürsch 2002; Enquete-Kommission 2002), setzt selbst zweierlei voraus.

Zum einen eine entsprechende staatliche Engagementförderungspolitik (Nullmeier 2002)[24],

zum anderen jedoch die Existenz und den Ausbau von sozialem Sinn, wie dies Barber kennzeichnet: am ehesten vielleicht der Sehnsucht in Nazim Hikmets Gedichtzeile „Leben einzeln und frei wie ein Baum aber brüderlich wie ein Wald“ entsprechend. Denn genau dort, wo solche Sehnsucht durch praktisches Handeln zur Realität gelangen müsste, um den entblößten und entleerten politischen Raum neu zu besetzten, genau dort konstatiert die Enquete-Kommission erhebliche Defizite, insofern insbesondere im Bereich der Wohlfahrtsverbände eine „große Distanz zu Fragen der Mitbestimmung ihrer ehrenamtlichen Akteure“ festzustellen ist. Aber diese Distanz zur Mitbestimmung gilt natürlich auch für das Verhältnis zu den hauptamtlichen Akteuren.

Einerseits zeigt die neue Ausrichtung von Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie an den Menschen und Bürgerrechten der Ausgegrenzten, von der die jüngste Debatte nicht nur in der Diakonie ausdrücklich ausgeht, genau jene Dimension sozialen Sinns auf, die von Jesajas kategorischem Imperativ[25], über das „Liebe Deinen Nächsten wie Dich Selbst“ bis hin zum Marxschen kategorischen Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (1974, 385), auf den Kern zivilgesellschaftlichen Engagements im Sinne von Barber verweist.

Andererseits wird dieser Weg nicht zu gehen sein ohne innere Demokratisierung und eine Veränderung der für die Wohlfahrtsverbände internen „Felder der Macht“.

In diese Richtung verweisen höchst die deutlich die ansonsten sich regelmäßig entkoppelnden Diskurse von oben und unten, von praktischer Arbeit als „Beziehungsarbeit“ und Leitungstätigkeit als „Euphemisierungsarbeit“ ebenso wie Beschaffung von ökonomischen Ressourcen (vgl. Bourdieu 1998, insb. Kap. 6).

Die Unteren, so die sozialwissenschaftlichen Analysen, tun in einem ewigen Sisyphosgeschäft nichts anderes, als die Institution zu reproduzieren, und zugleich die Oberen als illoyal zu empfinden (vgl. Fengler und Fengler 1994), diese aber reiben sich für Ökonomie und öffentliches Ansehen auf und empfinden zugleich die Unteren als unpolitisch.

Das Thema der Macht, auf das Pankoke (a.a.O.) ausdrücklich reflektiert, muss daher auch im Inneren der Tätigkeit der Wohlfahrtsverbände reflektiert und kommuniziert werden, wenn jener neue, ebenso demokratisch-zivilgesellschaftliche wie postsäkulare Sinn sich durchsetzen soll, der für eine Zukunft von Psychiatrie und Behindertenhilfe zwingend notwendig ist in einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist.[26]

In diesem Kontext ist die Grundforderung des sozialpsychiatrischen Diskurses nach Demokratisierung aufzugreifen, nicht als zusätzliche Last, sondern als Ressource, um über wechselseitige Anerkennung sozialen Sinn hervorzubringen.

So fordert das Positionspapier der Westfälischen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie vom 11.6.2002 (Zechert 2002) bezogen auf den Umbau von stationärer zu ambulanter Versorgung[27]: „Nur mit festem Sitz und Stimme der Repräsentanten der Betroffenenorganisationen, der Angehörigen von Betroffenen, wissenschaftlicher Beratung und unabhängigen Fachleuten und VertreterInnen der Fachverbände kann dies fachgerecht und demokratisch geschehen.“ (a.a.O. 47)

Aber auch die innerverbandlichen und innerinstitutionellen Verhältnisse verlangen einen deutlichen Zuwachs an egalitären Beziehungen: Wie sollen die Mitarbeiter wissen, was die ökonomischen und politischen Sorgen des Trägers sind, wenn sie nicht an seinen Sorgen beteiligt werden? Wie soll der Träger wissen, welches die pädagogischen und therapeutischen Sorgen der MitarbeiterInnen sind, wenn er sich nicht an ihnen beteiligt? Wenn Einrichtungen der Behindertenhilfe lernende Organisationen werden sollen, so kann dies nicht paternalistisch von oben nach unten durchgesetzt werden, sondern muss unter bestimmten Mindestgarantien egalitären Austauschs erarbeitet werden.

Und all dies ist zwingend notwendig, wenn die gerade begonnene Zukunft nicht vor unseren Augen zerrinnen soll. Die Zukunft der Sozialpsychiatrie ebenso, bezogen auf die Erfahrungen in den Modellregionen mit personorientierten Hilfen (Brill 2003), wie die im letzten Heft der „Orientierung“ aufgezeigte Neuorientierung im Bereich der Behindertenhilfe.

Eine Neupositionierung gegenüber Geld und Macht im Sinne der Wiedergewinnung von sozialem Sinn ist, der Argumentation von Pankoke (2001) folgend, ersichtlich das Gebot der Stunde. Wenn es, wie Pankoke (ebd. 12) hervorhebt, zudem so aussieht, als ob der Protestantismus ein zweites Mal in die Rolle des Konstrukteurs gerufen ist, diesmal nicht des gesellschaftlichen Fortschritts als solchen wie zu Beginn der Moderne sondern gegenüber der rationalistischen Krise der Sinnkonstruktion, wäre es dann so abwegig, sich an diesen Beginn der Moderne nochmals zu erinnern? Wäre es in Anbetracht der von Luther repräsentierten Polarität der protestantischen Erneuerung im Sinne des Forschritts als Bündnis mit der Macht[28] dann nicht geboten, nunmehr im Sinne der Polarität der Neugewinnung von sozialem Sinn gegenüber der Macht widerständig zu sein?

Dies hieße u.a. aber auch, sich mit Ernst Bloch (1985 b) erneut der Figur des Thomas Münzer zu versichern, des radikalen Gegenspielers von Luther, und ebenso, wie Albert Schweitzer dies mehrfach empfiehlt, sorgfältig zwischen Verhältnissen und Menschen als Träger dieser Verhältnisse zu unterscheiden. Bei Schweitzer (1960, 351) liest sich das u.a. so: „Keinen Augenblick legen wir das Misstrauen gegen die von der Gesellschaft aufgestellten Ideale und die von ihr im Umlauf gehaltenen Überzeugungen ab. Immer wissen wir, dass sie voller Torheit ist und uns um Humanität betrügen will.“ Und die Differenz zu Münzer, in den Worten Blochs ausgedrückt, ist schmaler als eines Messers Schneide:

„Heraus aus dem leibeigenen Verhältnis zu Eltern und vor allem zu Herren, zu jeder Art von Obrigkeit. Gemeinsames Noch-Nicht klopft dann an der eigenen Tür, die zugleich die zwischenmenschliche geworden ist.“ (1985 b, 210)

Diese Differenz von Messers Schneide ist überschritten mit Eckart Pankokes Feststellung gegen Ende seines Grundsatzreferates auf Ihrer Konferenz zu „Diakonischen Profilen der sozialen Arbeit“: „Nicht nur wer handelt, auch wer nicht handelt, kann sich schuldig machen.“ (a.a.O., 15)[29]

Sie werden, wenn Sie im Sinne einer neu zu entwickelnden, auf Menschenrechten und der Neugewinnung von sozialem Sinn aufbauenden sozialen Gerechtigkeit handeln, nicht nur einer Zukunft entgegentreten, die bereits jetzt vor unseren Augen sich in das Nichts aufzulösen beginnt, Sie werden dabei auch viele Freunde haben und gewinnen.

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[1] Vortrag bei der Jahreshauptversammlung des Fachverbands evangelische Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie in Bayern e.V. des Diakonischen Werks Bayern am 16.11.2003 in Nürnberg

[2] Deutliche Einschnitte bei den Heimen; ebenso in der Frühförderung; die sozialpsychiatrischen Dienste sind im Bestand gefährdet; Weigerung der Banken, bei verschuldeten Menschen Konten weiterzuführen; massive Verstöße der Sozialverwaltungen gegenüber berechtigten Bürgeransprüchen; Restriktionen der Kostenträger und öffentlichen Zuschussgeber; restriktivere Kreditlinien der Banken gegenüber Sozialeinrichtungen; unerträgliche Zustände in der Altenpflege; Einstellung von ABM-Massnahmen und Kürzung von Zuschüssen für Beschäftigungsbetriebe (a.a.O. 15 ff.; 21)

[3] Erneut in W. Jantzen: „... die da dürstet nach der Gerechtigkeit“ - Deinstitutionalisierung in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. Berlin: Edition Marhold 2003

[4] „Nach UNDP-Angaben (United Nations Development Program; W. J.) überstieg der Besitz von 358 Milliardären bereits 1996 das Gesamteinkommen der Länder mit den ärmsten 45 Prozent der Weltbevölkerung. Der World Food Report für 2002 weist aus, dass in diesem Jahr 36 Millionen verhungerten. Die Zahl der extrem Armen wird von der Weltbank mit 2,81 Milliarden angegeben.“ (Klein 2003, 2)

[5] Die Trennung von politischem Leben und nackten Leben wird nach Agamben (2002) vor allem sichtbar im Lager als zunehmendem Normalfall der Moderne: Dort aller politischen und Bürgerrechte beraubt, erscheinen die Flüchtlinge oder Internierten als reine Träger jener Menschenrechte, derer man sie zuvor durch Außerkraftsetzung  ihrer bürgerlichen Rechte beraubt hat: als nacktes und zugleich heiliges Leben.

[6] Die Franzosen Couvrat und Pless (letzterer ehemaliger ökonomischer Berater der OECD, der UNO und des GATT) gehen bereits 1988 (franz. Erstauflage; dt. 1993) davon aus, dass innerhalb von 20 Jahren ca. 1.000 Mrd. Dollar – eine Summe die zu diesem Zeitpunkt der Verschuldung der Dritten Welt entsprach – bei internationalen Transaktionen überwiesen wurden, ohne dass irgend ein Land sie in seiner Handels- oder Zahlungsbilanz ausgewiesen hätte. Mit den Bereicherungswellen im Kontext der Globalisierung und des realsozialistischen Kollaps dürfte sich dieser Betrag exponentiell in kaum noch vorstellbare Bereiche erhöht haben.

[7] Soziale Menschenrechte sind in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 u.a. in folgenden Artikeln enthalten: Art. 22 Recht auf soziale Sicherheit, Art. 23 Recht auf freie Berufswahl und auf Schutz vor Arbeitslosigkeit; Art. 24 Recht auf Erholung und Freizeit, Art. 25 Recht auf einen Lebensstandard, „der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet“ (Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung, soziale Leistungen usw.), Art. 26 Recht auf Bildung. Die BRD hat bis heute diese Teile der Deklaration, obgleich in den Verfassungen verschiedener Bundesländer z.T. verankert, nicht anerkannt (Peach 2003)

[8] Vgl. den Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung („Lebenslagen in Deutschland“ URL: http://www.bmgs.bund.de/deu/gra/publikationen/p_15.cfm ) bzw. den „German Wealth Report“ der Beratungsunternehmen Merrill Lynch und Cap Gemini Ernst & Young (2000).URL: http://www.de.cgey.com/servlet/PB/show/1000719/German%20Wealth%20Report%202000%20.pdf sowie dem Armutsbericht von Hans Böckler Stiftung, DGB und Paritätischem Wohlfahrtsverband (Hanesch u.a. 2000). Nach dem Armuts- und Reichtumsbericht, der bezogen auf die Reichen zu einer höchst deutlichen Unterschätzung kommt, verfügen die reichsten 10 Prozent der Haushalte über 42% des Privatvermögens, die untere Hälfte aller Haushalte jedoch nur über 4,5%. Zu Beginn der 60er Jahre wurde die Zahl der Millionäre in der BRD auf 60.000 geschätzt, 1973 auf 217.000 und heute auf über 1,5 Mio.

[9] Vgl. Infobrief 9 des Netzwerks Geocities http://www.geocities.com/kleineba/infobrie.htm, die Informationen von Attac zu GATS http://www.attac.de/gats/index.php sowie weitere Quellen im Internet.

[10] „Fare“ („welfare“ = Sozialpolitik, Wohlfahrt), bedeutet sowohl Befindlichkeit wie Preis oder Kosten. Vgl. zu näheren Details dieses Wandels Heft 4, 2003 des „Forum Wissenschaft“.

[11] „Hessen muss sozial bleiben.“ Frankfurter Rundschau online, 20.11.2003. U.a. erfolgt eine Kürzung der folgenden Leistungen jeweils auf Null: Medizinisch-psychosoziale Betreuung von HIV-positiven Gefangenen in Frankfurt (bisher 175.000 €); Schuldnerberatung an insgesamt 36 Orten (bisher 1.964.000 €); Maßnahmen zum beruflichen Wiedereinstieg von Frauen (bisher 1.385.000 €); Lokale Beschäftigungsinitiativen (bisher 824.000€). Zudem stehen eine Reihe von psychosozialen Initiativen durch Teilkürzungen ihrer bisherigen Zuschüsse vor dem Aus. URL: http://www.hr-online.de/special/sparkurs/PM_Sparpaket_Sammelmeldung3.pdf

[12] Die markwirtschaftliche Ordnung setzt auf „die Freiheit der Initiativen und den Wettbewerb der Markteilnehmer, nicht zuletzt auf ihr Erwerbs- und Gewinninteresse“ so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Böckenförde (2003). Und dies bestimmt nach Böckenförde den Rahmen, innerhalb dessen soziale Gerechtigkeit noch als Verteilungsgerechtigkeit (von der sich der Generalsekretär der SPD unterdessen offiziell verabschiedet hat; Scholz 2003) und Gemeinwohlgerechtigkeit möglich ist (letztere fällt im neuen Verständnis relativ eng mit Kriminalprävention zusammen; vgl. Mead 1997, Eick 2003, 15). Und für den programmatischen Artikel in der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte für den SPD-Parteitag in Bochum (Grafe 2003), ist die „Steigerung des Sozialstaats kein Ausweis für soziale Gerechtigkeit“. Denn eine Gesellschaft ist umso gerechter, je geringer der Sozialetat ist, den sie benötigt.“ (ebd. 1) Den Verteidigern des Sozialstaates wird vorgehalten: „Sie pflegen eine Umsonst-Illusion nach dem Muster: bei uns kommt das Geld aus dem Automaten“ (ebd. 3). Und da man das Geld auf keinen Fall den Reichen nehmen will, muss soziale Gerechtigkeit in reine Ordnungspolitik umdefiniert werden. URL: http://www.frankfurter-hefte.de/

[13] „Für Großkonzerne und auch für viele reiche Haushalte gibt es den Staat offensichtlich nur, wenn es Fördermittel abzugreifen gilt, nicht aber, wenn es darum geht, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist“ (Huster 2003)

[14] Zu wessen Lasten und zu wessen Nutzen geplündert wurde, dürfte in Anbetracht der offen liegenden Ursachen der in der BRD auf Länderebene zweithöchsten Staatsverschuldung im Land Berlin (Haftung des Landes für Bankenmisswirtschaft) durchaus einmal laut gefragt werden. Aber auch die Wiedervereinigung ebenso wie der Aufbau Ost sind ein Lehrbeispiel für das Verschwinden öffentlicher Mittel in privaten Taschen bzw. in zweckentfremdeter Nutzung.

[15] Die Vorstände der DAX-Unternehmen haben laut Verdi ihre Einkommen seit 2000 um fast 50% erhöht (URL: http://www.verdi.de/0x0ac80f2b_0x0006f800

[16] In Deutschland wird das Eigentum mit 0,9 % Anteil am Bruttoinlandsprodukt weit unterdurchschnittlich besteuert (Durchschnitt aller OECD-Länder 1,9 %; USA 3,1 %; Großbritannien 3,9 %). URL: http://www.gew-berlin.de/blz/739.htm

[17] An anderer Stelle des Berichts wird das Grundproblem des bisherigen Versorgungssystems in der bisherigen Trennung von örtlicher und überörtlicher Sozialhilfe identifiziert (Diakonisches Werk 2002, 14)

[18] Vgl. hierzu Jantzen 1998, 2004

[19] Insofern gehört der Begriff „Gutmensch“ ins Wörterbuch des Unmenschen (so Möckel 2001). Zur Funktion der ZEIT vergl. auch ihre Rolle in der Singer-Debatte oder um die Beseitigung des Embryonenschutzes, u.a. durch die Beiträge von Reinhard Merkel (1989, 2001).

[20] „Wer sich ein Bild über die Realität in deutschen Pflegeheimen machen möchte, sollte einige Pflegeheime besuchen und dort mit Heimbewohnern und deren Angehörigen, mit Mitarbeitern sowie mit dem Heim- und Pflegedienstleiter sprechen. Um aber „Wahrheiten“ zu erfahren, muss er – paradoxerweise – glaubhaft versichern, dass er über das, was er gesehen und gehört hat, Stillschweigen bewahrt. Zu groß ist auch die Angst vor vielerlei Repressalien. Allerdings hemmt auch die „Angst vor der Angst“ so sehr, dass mögliche Veränderungen dadurch verhindert werden.“ (Hirsch a.a.O., 25)

[21] „Sich vernünftig zu benehmen, wo die Vernunft als Falle gebraucht wird, ist nicht >rational<, so wie es nicht >irrational< ist, in Selbstverteidigung zur Gewalt zu greifen“ (Hannah Arendt; 1970, 67). Zur Dechiffrierung dieser Zusammenhänge im Bereich von Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie vgl. Jantzen und Lanwer-Koppelin 1996 sowie  Jantzen 2003.

[22] Vgl. zu dieser Debatte auch Jantzen u.a. (1999)

[23] Zivilgesellschaft ist für Gramsci, den marxistischen Philosophen, der wie kein andere das politische Denken um die Verantwortung der Intellektuellen geprägt hat, Gesamtheit der nicht staatlichen Organisationen, welche die öffentliche Meinung und damit den „Alltagsverstand“ prägen (als dynamischster Teil: Kirche, Gewerkschaften, Presse, aber auch Schule, Bibliotheken usw.). Entscheidend ist hierbei für die Kräfteverhältnisse in der Zivilgesellschaft die Stellung der Intellektuellen zwischen den Polen von Demokratie und sozialen Menschenrechten einerseits und Interessen der Herrschenden und der Ökonomie andererseits. Diese Intellektuellen versucht der Staat (als „integraler Staat“) immer wieder zu seinen Gunsten zu beeinflussen, zu integrieren. Intellektuelle, die sich einem der beiden Lager bewusst zuordnen, nennt Gramsci „organische Intellektuelle“, jene die sich nur aus den Traditionen ihres Berufs, Standes usw. verstehen, sich also für apolitisch halten, nennt Gramsci „traditionelle Intellektuelle“. Zentrale Problem des Klassenkampfes im „Überbau“ ist es für Gramsci, diese Intellektuellen für die aufsteigende Klasse, also für Demokratie und Humanität zu gewinnen, d.h. Hegemonie (geistige Vorherrschaft) gegenüber dem integralen Staat zu gewinnen (vgl. Jantzen 1990, Kebir 1991).

[24] Der Ruf nach Bürgergesellschaft ist nach Auffassung von Nullmeier (2002) ein „Ausdruck von Ratlosigkeit“:  Der Bürgerschaftsdiskurs nimmt die Kräfte des Marktes nicht ernst genug; nur eine entschiedene staatliche Engagementförderungspolitik ist in der Lage, entsprechend gewünschtes bürgerschaftliches Engagement zu realisieren.

[25] „Löse die Fesseln der Ungerechtigkeit. Sprenge die Bande der Gewalt. Gib frei die Misshandelten. Jedes Joch sollt ihr zertrümmern. Brich dem Hungrigen dein Brot. Die Obdachlosen führe in dein Haus. Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn. Entzieh dich nicht deinen Brüdern.“ (Jesaja 58, 6,7)

[26] Zu Fragen zivilgesellschaftlichen Handelns kirchlicher Initiativen vgl. auch die empirische Studie von Glatz-Schmallegger 2002, bezogen auf den Bereich der Bekämpfung struktureller Armut in Österreich. URL: http://www.nt.tuwien.ac.at/nthft/temp/oefg/text/kirche.pdf

[27] Bezogen auf das betreute Wohnen für seelisch Behinderte liegt Hessen mit 0,5% pro 1000 Einwohner im Jahr 2000 im Vergleich zum stationären Wohnen (0,44%) am höchsten, während in NRW noch eine Kontingentierungsquote von 95% stationär zu 5% ambulant besteht (Zechert a.a.O., 46)

[28] „Seid Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über Euch hat“

[29] Dies gilt für soziale Bewegungen auch unter dem Aspekt des richtigen Zeitpunkts, insofern es unter bestimmten Bedingungen zum „sporadischen Erscheinen von sogenannten Reformfenstern“ kommt, so eine Untersuchung am Beispiel der Umweltbewegung und der Antiglobalisierungsbewegung (Kolb 2003) unter Verwendung eines theoretischen Modells der politischen Auswirkungen sozialer Bewegungen (Movement action success strategy = MASS). URL: http://www.bewegungsstiftung.de.