Wolfgang JANTZEN
"Nur wenn man noch viel verrückter denkt, als die Philosophen, kann
man ihre Probleme lösen."
(Ludwig WITTGENSTEIN, 1984, 457)
"Hätte man Edison, Franklin, Nostradamus, Händel, Dali, Ford,
Mozart, Hemingway oder van Gogh mit Medikamenten in den 'Normalzustand' zurückgebracht,
dann wäre unsere Welt sehr anders und weitaus weniger interessant geworden."
(Thom HARTMANN 1997, 141)
1. Normalität
Um von Verhaltensstörungen zu reden, braucht man einen Maßstab dessen,
was normales Verhalten sein könnte. Sind Vielfalt und Differenz normal?
Ist Normalität also jener den Individuen aus eigener Ursache zugestandene
Modus des Verbleibens im Prozess ihrer Selbstentwicklung, der lediglich seine
Grenzen in dem durch den Staat geregelten friedlichen Zusammenleben aller findet,
so z.B. die philosophische Position SPINOZAs. Und ist eine derartig gedachte
Normalität als freie Entwicklung eines jeden die Bedingung der freien Entwicklung
aller, so MARX und ENGELS im "Kommunistischen Manifest"? Ist damit
folglich die freie Entwicklung des anderen die Bedingung der freien Entwicklung
meiner selbst? Bin ich also, um mich frei zu entwickeln "verantwortlich
für den anderen, ohne Gegenseitigkeit zu erwarten und wenn es mich das
Leben kosten würde. Die Gegenseitigkeit, das ist seine Sache" so LÉVINAS
(1992, 75)?
Die Grundposition eines nicht "normalisierenden" Ansatzes bestimmt
LÉVINAS dabei wie folgt: "Es ist äußerst wichtig zu erkennen,
ob die Gesellschaft im üblichen Sinn das Ergebnis einer Beschränkung
des Prinzips, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, darstellt oder ob sie im
Gegensatz dazu aus der Beschränkung des Prinzips, dass der Mensch für
den Menschen da ist, hervorgeht" (Lévinas 1992, 62)
Oder wird von einer vorgängigen Normalität ausgegangen, insofern vom
Standpunkt einer absolut gesetzten ordnenden Vernunft, so wie dies Zygmunt BAUMAN
aufgezeigt hat, die Unterlegenen im Extremfall nur noch als nicht moralfähige
Dinge betrachtet werden? Insbesondere der Biologie im Sinne angewandter Bevölkerungspolitik
kommt hierbei im modernen Staat eine bedeutende Rolle zu (1993). Ist Normalität
dann nur noch das, was möglichst reibungslos Staat und Produktion dient?
Wird der Maßstab der Normalität der westeuropäische oder nordamerikanische
Mensch mittleren Alters, mit guter Ausbildung und gutem Einkommen, weißer
Hautfarbe und männlichen Geschlechtes, wie dies ersichtlich der Normalitätsbegriff
der differentiellen Psychologie ist, die alles andere als Abweichung hierzu
untersucht?
Wird also von einem relationalen Begriff von Normalität ausgegangen, der
nach den Bedingungen eines humanen Zusammenlebens in Vielfalt und Differenz
fragt? (vgl. Jantzen 2001) Oder wird ein absoluter Begriff von Normalität
als Ordnungsmaßstab gesetzt, vor dem alles andere Abweichung in Form von
Krankheit oder Devianz ist? Dies gilt auch für die Behandlung meines Themas.
Hier eine Position zu beziehen, die von der notwendigen Anerkennung von Vielfalt
und Differenz ausgeht, heißt sich gegen den starken Diskurs neoliberaler
Politik zu stellen. Nichts desto weniger ist sie von der Sache her unumgänglich.
Im Gegensatz zur Biologisierung des ADS als weitgehend genetisch bedingte Störung
werde ich - ohne den biologischen Diskurs zu leugnen - Sie im folgenden mit
der Position konfrontieren, dass ADS eine soziale Konstruktion ist.
Das Buch der Namen
"The book of names", so lautet die Überschrift des kritischen
Artikels von JENSEN und HOAGWOOD (1997) zu den psychiatrischen, juristischen
und sonstigen Konventionen, die in Form von Mehrheitsbeschlüssen folgenden,
nicht aber auf Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie aufbauenden Klassifikationen
des psychiatrischen Standardklassifikationssystems DSM-IV (APA 1994). Als solche
Konventionen in Form von mehrheitsfähigen Namen finden wir: ADD (Attention-Deficit
Disorder), ADHD (Attention-Deficit/Hyperactive Disorder), ADS (Aufmerksamkeits-Defizit
Störung) sowie Hyperkinetische Störung: Dies sind die englischsprachigen
bzw. deutschsprachigen Bezeichnungen in dem Diagnostischen und Statistischen
Handbuch, DSM-IV, der American Psychiatric Association bzw. in der Internationalen
Klassifikation der Krankheiten durch die WHO, in der ICD 10 (Dilling und Freyberger
1994). Dabei werden unterschiedliche Subtypen im Sinne der Kombination von fehlender
Aufmerksamkeit und Hyperaktivität unterschieden. Nicht mehr die Rede ist
von MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion), da im Rahmen dieses Konzeptes diagnostizierte
sog. "Hirnschäden" sich als prognostisch ohne jegliche Bedeutung
erwiesen haben, keineswegs also zu einer Störung der Hirnfunktionen führten
(Schmidt 1992).
Die beiden entscheidenden Merkmale des Syndroms, Hyperaktivität bzw. Impulsitivität
und Unaufmerksamkeit, liegen auf Verhaltensebene. Sie werden nach dem DSM-IV
(Ich zitiere die kurze Zusammenfassung von Breggin; zur ausführlichen Beschreibung
vgl. DSM-IV. [314.00; 314.01] 78 ff. bzw. ICD-10 [F 90.0; F 90.1; f 90.8, F
90.9] 285 ff.) wie folgt definiert:
Hyperaktivität bzw. Impulsivität:
"Zappelt öfter mit Händen oder Füßen, oder rutscht
unruhig auf dem Sitz hin und her; verlässt oft den Platz im Klassenzimmer;
läuft häufig herum oder klettert übermäßig in Situationen,
in denen es unangebracht ist; hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen
oder an Freizeitaktivitäten unauffällig teilzunehmen".
Unaufmerksamkeit:
"Ist unfähig, konzentriert aufzupassen oder macht Fehler bei den Schulaufgaben;
hat häufig Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit beizubehalten; scheint häufig
nicht hinzuhören, wenn direkt angesprochen; versagt dabei, Anweisungen
einzuhalten oder Hausarbeiten oder Schularbeiten zu machen".
Über die Häufigkeit existieren höchst unterschiedliche Angaben.
So spricht die Ottawa-Studie von 1971 von 40 % der Elementarschüler in
Ottawa, die Isle of Wight Studie zum gleichen Zeitpunkt (1970) von 1,6 % (Weinberg
1986, 209). Das österreichische Gesundheitsministerium spricht in Beantwortung
einer parlamentarischen Anfrage (Nr. 5722/J-NR/1999) von Angaben im Bereich
von 1 % bis 13 %. Das umfangreiche Sammelreferat von TANNOCK (1998, 65) spricht
bei konservativer Schätzung von 3-6 % bei einer Überrepräsentation
der Jungen zu den Mädchen im Verhältnis von 3:1. Allerdings liegen
die regionalen Verordnungssraten für Ritalin, ein Stimulans, das rasche
Abhilfe schaffen soll, regional bereits weitaus höher (z.B. in zwei Landkreisen
in Virginia 1998 bei 18-20 %; vgl. Steinberg 2000 mit Bezug auf das Journal
of the American Medical Association).
Die Koinzidenz mit anderen Störungen ist z.T. sehr hoch. So beträgt
die Überlappung mit oppositionellem Trotzverhalten (oppositional defiant
disorder), die ICD 10 spricht von "oppositionellem, aufsässigem Verhalten",
und "Störungen des Sozialverhaltens" (conduct disorder) 40 -
90 %, mit Stimmungsstörungen (mood disorders 15-20 %, Angststörungen
25 % und Lernstörungen 20 %, obwohl es sich nach DSM-IV bzw. ICD 10 hier
zum Teil um einander ausschließende Diagnosen handelt.
Obgleich familiennahe Unterstützung und pädagogische Interventionen
höchst erfolgreich sein können geht der Trend eindeutig hin zu einer
biologischen Trivialisierung der Ursachen: Genetisch bedingte Hirnschädigungen
in Form reduzierter Ausführungskontrolle von Handlungen durch das Frontalhirn
verbunden mit Störungen der Neurotransmitterproduktion in subkortikalen
Aufmerksamkeitsnetzwerken seien die Ursache von ADD und ADHD. Entsprechend wird,
dem klassischen medizinischen Modell verpflichtet, aus gestörter Aufmerksamkeit
von Kindern phänomenologisch auf die entsprechenden Ursachen zurück
geschlossen und zunehmend Ritalin verordnet.
3. Pillen für den Störenfried
"Pilllen für den Störenfried", so lautet der Titel eines
1983 von VOSS herausgegebenen Buches, das u.a. mit der Übersetzung des
Beitrags von CONRAD (1975) die US-amerikanische kritische Debatte auch in Deutschland
zugänglich machte. Die wichtigste dieser Pillen ist Ritalin (Methylphenidat).
Ritalin ist ein vom Pharmakonzern Novatis produziertes, im Gehirn wirkendes
Stimulans (Aufputschmittel). Die mit ihm verwandten Präparate Captagon
und Amphetamin sind seit Jahren in der Drogenszene verbreitet und auch Ritalin
findet dort zunehmend Gebrauch. In den USA untersteht Ritalin strengen Kontrollen
der Betäubungsmittelbehörden, in Deutschland und in der Schweiz darf
es nur über ein Betäubungsmittelrezept, in Österreich nur über
ein Suchtmittelrezept verschrieben werden. Trotzdem werden in den USA Millionen
von Kindern täglich damit behandelt. Die Behandlungsrate in einzelnen Schulen
beläuft sich bereits auf 30-40 %, so der Bericht des Internationalen Drogenkontrollrates
der UNO (INCB 1998) und obwohl die Fachinformation von Novartis-Pharma ausdrücklich
auf eine Medikation erst bei Kindern ab 6 Jahren verweist, werden unterdessen
sogar einjährige Kinder mit Methylphenidat behandelt (ebd.).
"Die aggressive Werbung einiger pharmazeutischer Firmen beeinflußt
sehr stark das Verschreibungs- und Konsumverhalten", so die Pressemitteilung
des UNO- Informationsdienstes (INCB 1998). Auf die außerordentlich enge
Verflechtung von Wissenschaft und Pharmaindustrie bei der Behandlung von hyperaktiven
Kindern hatten Peter SCHRAG und Diane DIVOKY in dem bereits 1975 erschienenen
Buch "The myth of the hyperactive child and other means of child control"
verwiesen, "eines der schockierendsten und wichtigsten Bücher, das
auf dem Gebiet der Erziehung in den letzten 10 Jahren geschrieben wurde",
so die Äußerung eines Rezensenten als Untertitel auf der 1981 erschienen
Ausgabe als Penguin-Taschenbuch. Die Erstveröffentlichung 1975 fiel in
eine Zeit größerer demokratischer und sozialpolitischer Sensibilität
für Mechanismen sozialer Kontrolle. Im gleichen Jahr warf Senator Edward
KENNEDY im Unterausschuss Gesundheit des Ausschusses Arbeit und öffentliche
Gesundheit des amerikanischen Senats die Frage auf, ob es denn hilfreich sei
und uns hoffnungsvoll stimmen könne, dass nicht die Ärzte die Entscheidung
über die medikamentöse Behandlung mit Ritalin bei den fünf Millionen
hyperaktiven Kindern in den USA fällen, sondern die Lehrerinnen und Lehrer
(zit. nach Hartmann 1997).
An der von SCHRAG und DIVOKY aufgezeigten Verquickungen von Forschung und Pharmaindustrie
hat sich bis heute nichts geändert. Hinzu kommt, dass diese Industrie selbst
massiven Einfluss auf Eltern und Selbsthilfeverbände zu nehmen versucht.
So wurde die besonders gut organisierte "Selbsthilfegruppe Aufmerksamkeitsgestörter
und Hyperaktiver", CHADD (Children and Adults with ADHD), mit über
30.000 Mitgliedern und Hunderten von Sektionen von Novartis mit 900.00 Dollar
in bar unterstützt (Barben und Bau 2000, Anm. 20).
Der zunehmende Boom an Medikalisierung von Auffälligkeiten in den USA geht
mit einer Reihe sozialpolitischer Maßnahmen einher. So wurden einkommensschwache
Familien mit ADHD ab 1990 pro Monat und ADHD diagnostiziertes Kind mit 450 Dollar
unterstützt, ab 1991 wurden weitere 400 Dollar jährliche Erziehungshilfen
pro diagnostiziertem Kind an die Schule gezahlt. Entsprechend stieg der Anteil
von Kindern mit ADHD an den Behinderten in den USA von 5 % im Jahr 1989 auf
25 % im Jahr 1995. 1997 wurden insgesamt 4,4 Millionen Kinder in den USA mit
ADHD diagnostiziert, Ritalin und ähnliche Medikamente jedoch an weitaus
mehr (6-9 Millionen) Kinder und Jugendliche verschrieben (Washington 2000).
In den letzten Jahren haben sozialpolitische Entwicklungen den USA zu einem
enormen Kostendruck geführt. Unter diesen Umständen ist für die
gewinnorientiert arbeitenden Gesundheitsdienstleister Ritalin mit monatlichen
Kosten von 30 - 60 Dollar der billigste Weg (Steinschulte 2000).
Auch wenn die Ritalin-Kritiker BARBEN und BAU zurecht darauf verweisen, dass
bis heute keine wissenschaftlichen Belege für einen organischen Defekt
vorliegen, so verkennen sie doch völlig, dass organisch von einer fiktiven
Normalität abweichende Befunde dann sofort als Indikatoren für Defekte
gesehen werden, wenn das soziale Interesse hieran besteht. So zeigen die unterschiedlichsten
Strategien der sozialen Einsparungen im Kontext von Globalisierung und Neoliberalismus
im letzten Jahrzehnt sowohl in den Metropolen als auch insbesondere gegenüber
den Drittweltländern massive Ökonomisierungsprozesse in den Aufgabenbereichen
Bildung, Gesundheit und Soziales bei immer stärkerer Divergenz zwischen
arm und reich. Derartige Prozesse sind immer dann besonders erfolgreich durchzuführen,
wenn sie eine Biologisierung sozialer Fragen enthalten (vgl. Bauman 1993). Michel
FOUCAULT (1993) hat dies in seinem berühmten Aufsatz "Leben machen
und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus" als Biopolitik beschreiben.
Biopolitik hat grundsätzlich zwei Aspekte: einen ersten, den FOUCAULT als
auf den Körper gerichtete Ergreifung durch die Macht benennt: d.h. der
Körper wird getrennt von der Geschichte des Individuums als sozialer Ort
der Diagnose und des Eingriffs bestimmt. Dies ist die Anatomie-Politik. Und
zweitens existiert die nicht individualisierende, sondern massenkonstituierende
Funktion der Macht, insofern nun die Bio-Politik Platz ergreift. D.h. Krankheiten
bestimmter Menschengruppen werden jetzt betrachtet als "permanente Faktoren
des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Schwindens
der Energien, als ökonomische Kostenfaktoren, und zwar ebensosehr auf Grund
des Produktionsausfalls wie auf Grund der Pflege, die sie kosten können"
(31).
Ohne im Detail zahlreiche andere sozialwissenschaftliche Ansätze zitieren
zu können, die ebenfalls diesen Durchsatz ökonomisierender Betrachtungsweisen
durch alle gesellschaftlichen Bereiche zum Thema haben, zeigt die FOUCAULTsche
Analyse, dass erstens am Individuum eine festmachbare Diagnose vorhanden sein
muß, die dieses zweitens aus Sicht der herrschenden ökonomischen
Interessen als unproduktiv und kostenintensiv erscheinen lässt, damit bevölkerungspolitische
Strategien greifen können. Innerhalb dieser Strategien wird gesellschaftliche
Ungleichheit in Biologie umgewandelt. Eben dies nennt FOUCAULT Rassismus.
Da aber dieser Rassismus zwei Ebenen hat: die Deutung des einzelnen Zeichens
und die Ökonomisierung des sozialen Umgangs aufgrund dieser Deutung, reicht
es nicht, wie BARBEN und BAU dies tun, das Aufzeigen organischer Defekte zu
bestreiten. Denn dies führt sofort zu dem Vorwurf des Soziologismus und
damit zur Immunisierung der gegnerischen Argumentation, eine gegnerische Argumentation,
die auf diesem Wege fast zwangsläufig die mit der Erforschung der Biologie
beauftragten Intellektuellen und die herrschenden Bio-Politiker zu Verbündeten
macht.
Ergebnis sind trivialisierende Ursache-Wirkungs-Behauptungen zu ADS, wie man
sie auf Web-Sites von Elterngruppen ebenso findet wie im ZDF Ratgeber "Volle
Kanne, Susanne" (ZDF 2001). Ein Höhepunkt meiner bisherigen Lektüre
war zweifelsohne die Behauptung eines Erziehungswissenschaftlers der Universität
Bremen: "Im Fall von Störungen kann man mit Ritalin die Stoffe substituieren,
die der Körper selbst nicht herstellt. Dies ist vergleichbar mit Diabetes"
(Hermann 2001, 22).
Defekte Hirnfunktionen oder andere Hirnfunktionen?
In seinem Buch "Vom Gebrauch der Wissenschaft" schreibt der französische
Soziologe Pierre BOURDIEU "Wenn Sie einen Mathematiker ausstechen wollen,
muss es mathematisch gemacht werden, durch einen Beweis oder eine Widerlegung.
Natürlich gibt es immer auch die Möglichkeit, dass ein römischer
Soldat einen Mathematiker köpft, aber das ist ein "Kategorienfehler",
wie die Philosophen sagen." (1998, 28) Ebenso ein Kategorienfehler wäre
es, einen Biologen und erst recht einen Biologisten mit Soziologie ausstechen
zu wollen.
Entwicklungspsychopathologie oder Determinismus?
Innerhalb der Entwicklungspsychopathologie, die sich in den USA und Großbritannien
als neues Paradigma in der Kinder- und Jugendpsychiatrie herausbildet (vgl.
insb. die seit 1989 erscheinende Zeitschrift "Development and Psychopathology),
werden Dysfunktionen nicht als Verhaltensstatus von Individuen betrachtet, sondern
als Muster, die auf der Basis von Transaktionen des Organismus mit der Umgebung
innerhalb bestimmter Entwicklungspfade zu begreifen sind. Störungen innerhalb
des Individuums zu suchen, laufe auf eine "individualistische Metaphysik"
hinaus, besondere Defizite der bisherigen Debatte seien im Fehlen einer adäquaten
Theorie von Entwicklungskontexten auszumachen (Cicchetti/Aber 1998). Entwicklung
ist nicht vorrangig durch den Defekt bestimmt, "single cause - single desease"
Annahmen sind nicht zulässig. Dies gilt auch und selbstverständlich
für ADHD (Taylor 1999).
Bei allen entwicklungspsychopathologischen Verläufen gelten bestimmte Grundprinzipien:
- Äquifinalität (verschiedene Ursachen führen zum gleichen Ergebnis),
- Multifinalität (eine Ursache führt zu höchst unterschiedlichen
Ergebnissen),
- Epigenese ( die biotische Entwicklung wird durch innere und äußere
Transaktionen in der Entwicklung bestimmt) und
- transaktionale Einflüsse des jeweiligen sozialen Kontextes (Fischer u.a.
1997).
Ferner gilt:
- Störungen sind Abweichungen über die Zeit;
- eine Veränderung der Entwicklungsrichtung ist an verschiedenen Punkten
möglich;
- Möglichkeit und Umfang der Veränderungen der Entwicklungsrichtung
werden durch die bisherige Adaptation beschränkt. (Sroufé 1997)
Diese Überlegungen insgesamt gestatten keine deterministischen Modelle
(Richters 1997).
Vergleichbare Überlegungen hatte VYGOTSKIJ (1993) bereits zu Beginn der
dreißiger Jahre entwickelt: Ein organischer Defekt bildet mit einer Reihe
primärer Folgen einen "Kern der Retardation". Die primären
Neubildungen sind am meisten resistent gegenüber Beeinflussungsversuchen
bzw. die direkt über dem gestörten System aufbauenden funktionellen
Systeme des Gehirns werden am meisten in Mitleidenschaft (Wygotski 1987) gezogen.
Primäre Faktoren der Kompensation sind Kooperation und Kollektiv, mittels
derer die sekundären Neubildungen, die höheren geistigen Funktionen,
auch bei geistiger Behinderung, so gestaltet werden können, dass keine
Retardierung resultiert. Dieser Prozess kann, auf Grund der sozialen Isolation
durch den Kern der Retardation ebenso wie durch sozial inadäquate Reaktionen,
so verändert werden, dass es zu tertiären Neubildungen im Sinne psychopathologischer
Prozesse kommt.
Lesen wir auf diesem Hintergrund die Befunde, so ergibt sich bereits an der
Oberfläche ein deutlich anderes Bild: Ersichtlich gibt es einen Kern des
ADS-Syndroms, der durch organische Prozesse motorischer Unreife gekennzeichnet
ist, darüber hinaus gibt es eine sehr große zweite Gruppe von Kindern
mit ADS-Symptomatik. Für diese sind familiäre Kontext-Variablen die
besten Prädiktoren für ADS im Schulalter. Insbesondere intrusives
Verhalten von Eltern und Überstimulation begünstigen dieses Syndrom
(Sroufé 1997). Ein früher Vorläufer ist die kindliche Ablenkbarkeit
im Alter von drei Jahren. Beides zusammen, Ablenkbarkeit und intrusive Erziehung
sagen im Alter von sechs bis acht Jahren immerhin 28 % der Varianz von ADS in
der Gesamtgruppe voraus (Carlson u.a. 1995). Intrusives Verhalten bedeutet vor
allem, Kindern im Rahmen geteilter Aufmerksamkeit nicht hinreichend Gelegenheit
für eigene Initiativen zu lassen, sondern sie in didaktischer Absicht hierin
immer wieder zu unterbrechen.
Neuere Forschungen zeigen außerdem, dass sehr häufig Kinder mit Gewalterfahrungen
und Postraumatischem-Stress-Syndrom (PTSD), insbesondere auch nach sexuellem
Mißbrauch, mit ADHD fehldiagnostiziert werden. Zwischen beiden Syndromen
besteht ein hoher Teil an Überlappung und Ko-Morbidität (Weinstein
u.a. 2000; vgl. auch Famularo u.a. 1996), obwohl dies in den Diagnostikrichtlinien
des DSM-IV noch keine Berücksichtigung findet. Zur Differentialdiagnose
von ADHD müßten demnach prinzipiell Nachforschungen zu möglichen
Gewalterfahrungen gehören.
Ein Verdacht in Richtung victimisierender Traumata wird durch das gleichzeitige
Auftreten von oppositionellem Trotzverhalten nahegelegt (Ford u.a. 1999), zudem
könnte ADHD auch die Folge von Depressionen sein (Biederman u.a. 1994).
Höchst unterschiedliche Ursachen können also zum gleichen Effekt führen.
Aber auch die gleiche Ursache kann zu unterschiedlichen Effekten führen,
wie dies z.B. geschlechtspezifischen Reaktionsweisen bei ADHD zeigen: Jungen
entwickeln eher die hyperaktive Variante, Mädchen eher Tagträume (Phelan
1996, zit. nach Zimpel 2000 a; Newcorn u.a. 2001, Gaub und Carlson 1997)
Nicht nur, dass die biologisierende Sichtweise alles über einen Kamm schert,
was höchst unterschiedliche Ursachen hat, sie bewirkt auch schwere Selbstwertverletzungen
bei dementsprechend diagnostizierten und auf einen Hirnschaden reduzierten Kindern.
"Anstatt schlecht zu sein, wird das Kind ermutigt, sich selbst als "krank"
zu betrachten. Aber was ist wirklich besser für das Kind - dass es sich
als schlecht empfindet oder als geisteskrank? Es ist weitaus demoralisierender
für ein Kind zu glauben, dass er oder sie einen defekten Verstand oder
eine Gehirnerkrankung hat", so BREGGIN (2001).
ADS als Entwicklungspfad
Betrachten wir die neurologischen und neuropsychologischen Befunde bei ADS,
so zeigt es sich, dass ADS auf dieser Ebene eine eigene Realität hat, die
aber keineswegs als Defekt begriffen werden muß.
Soweit neuropsychologische Befunde zu ADHD vorliegen, ergibt sich ein Muster
gestörter Aktivation. Insbesondere Hirnstrukturen, die reich an Dopamin
und Dopaminrezeptoren sind, scheinen unteraktiviert zu sein
TANNOCK (1998) nennt hierzu drei theoretische Modelle, die 1. auf das septo-hippocampale
Gebiet und seine Verbindungen zum frontalen Kortex verweisen (Quay-Gray-Modell),
2. auf reziproke Verbindungen des orbitofrontalen Kortex mit dem Striatum (Barkley-Modell),
3. auf eine Dysfunktion des Dopaminsystems der Basalganglien, insbesondere des
Striatums (van der Meere-Modell). SERGEANT (2000) spricht sich hingegen für
ein vereinheitlichtes Modell mit drei Niveaus aus: Auf dem untersten Niveau
von encoding, processing, response organisation liegen Veränderungen der
psychomotorischen Organisation vor. Auf dem mittleren, energetischen Niveau
von arousal, activity und effort (bezogen auf das entsprechende Modell von Pribram,
das diese drei Funktionen mit Amygdala, Basalganglien und Hippocampus in Verbindung
bringt; vgl. Jantzen 1990, 106 ff.) sind es Defizite im Bereich von acitivation
(und in gewissem Ausmass von effort). Und auf dem obersten Niveau treten Veränderung
der exekutiven (Frontalhirn-) Funktionen auf.
Insofern kann Narkolepsie, also erhöhte Schläfrigkeit oder Müdigkeit,
als Kern des Aufmerksamkeitsdefizits betrachtet werden, zumal neuere bildgebende
Verfahren auf einen reduzierten Glukoseumsatz in Aufmerksamkeitsnetzwerken während
Daueraufgaben verweisen. Dieser kann durch höchst unterschiedliche Ursachen
entstehen. In der Denkweise VYGOTSKIJs wäre diese erhöhte Ermüdung
oder Ermüdbarkeit der Kern der Retardation. Die Überaktivierung hingegen
wäre bereits ein kompensatorischer Prozeß, um die Müdigkeit
zu bewältigen.
Narkolepsie als Kern des Syndroms
Zunächst zur Narkolepsie als Kern des Aufmerksamkeitsdefizits (für
seine mündlichen Hinweise hierauf bin ich André ZIMPEL zu Dank verpflichtet).
Wodurch könnte der "Kern der Retardation" entstehen ? Zwillingsstudien,
Adoptivstudien u.a.m. sprechen für eine "starke genetische Komponente",
so TAYLOR (1999). Laut HALLOWELL und RATEY, Autoren eines in deutscher Sprache
vorliegenden psychiatrischen Standardwerkes zu ADHD, sprechen von 51 % Wahrscheinlichkeit,
dass eineiige, und von 35 % Wahrscheinlichkeit, dass zweieiige Zwillinge diese
Störung haben (1998, 413). Da aber Populationsstudien eine erhöhte
pränatale Exposition zu Alkohol aufweisen, d.h. zu einer Gefährdung
durch das fetale Alkoholsyndrom, und außerdem weitere intrauterine und
frühe extrauterine Risikokonstellationen (z.B. Hypoglukämie in den
ersten Lebenstagen) schichtspezifisch und familienspezifisch mit ins Spiel kommen,
ist nur ein Teil der organischen Belastung genetischer Natur.
Die entstandenen Dimensionen erhöhter Verwundbarkeit, die durchaus das
Resultat unterschiedlicher genetischer und epigenetischer Prozesse sein können,
führen dann im Rahmen selbst häufig belasteter Familien zur Konstruktion
einer Umgebung, welche es ihrerseits verfehlt, sowohl die kognitive Entwicklung
als das Lernen der Hemmungskontrolle zu unterstützen (Taylor 1999, 615).
Andererseits können jedoch wenig stimulierende Umgebungen bereits Narkolepsie
begünstigen. So bemerkt der berühmte Bewegungsphysiologe BERNSTEIN
bereits 1947 in seiner Auseinandersetzung mit PAVLOVs Methode der Herausbildung
bedingter Reflexe, dass "bei den Versuchstieren häufig eine Schlafhemmung
eintritt, die eine wahre Plage bei den Versuchen mit bedingten Reflexen ist.
Im Gegensatz dazu stellt jede Etappe bei der Ausarbeitung der Bewegungsfertigkeiten
kein passives Hinnehmen' der Einwirkungen dar, die von außen kommen
[...] sondern eine aktive psychomotorische Tätigkeit" (1996, 6).
Nun mag dies nur eine situative Einschränkung sein, die jeder von uns kennt,
wenn eine Situation zu langweilig wird. Forschungen zur Auswirkung von früher
Isolation auf das Gehirn zeigen jedoch, dass hierdurch die bei ADS ins Spiel
kommenden Regionen langfristig geschädigt werden können. In der einschlägigen
Literatur werden Auswirkungen auf Basalganglien, Gyrus cinguli, Hippocampus
und vermutlich auch Kleinhirn genannt (vgl. Lewis u.a. 1996, Benes 1994).
Und schließlich dürfen längerfristige stabile präsynaptische
Wirkungsgradverstellungen eine Rolle spielen, auf die uns EDELMANs Theorie des
"Neuronalen Darwinismus" aufmerksam macht (1993). Hierfür spricht
auch, dass Ritalin kurzzeitige positive Effekte hat, jedoch langzeitige Verbesserungen
unklar sind (Zeiner 1999). Die starke hyperaktive Reaktion auf eine Vergabe
von Placebo statt Medikament verweist dabei weniger auf die Wirksamkeit des
Medikaments, als auf dessen Integration in die Wirkungsgradverstellung der Prozesse
des ZNS, eine Tatsache die auch ansonsten bei Psychopharmaka bekannt ist. Sehr
gut ist dies auch an in gewisser Hinsicht vergleichbaren Prozessen der Beeinflussung
von Parkinson-Patienten durch L-Dopa zu sehen, wie sie in Oliver SACKS' Buch
"Awakenings - Zeit des Erwachens" dokumentiert.
Hyperaktivität als Kompensationsstrategie
Betrachten wir nun die Hyperaktivität, die nach allen Längsschnittuntersuchungen
relativ spät, also erst mit beginnendem Schulalter eindeutig diagnostizierbar,
ins Spiel kommt. Sie ist demnach keineswegs eine notwendige Bedingung der Kompensation,
sondern tritt - im Sinne VYGOTSKIJs als tertiäre Neubildung - erst dann
auf, wenn die sekundären Neubildungen nicht hinreichend stabil sind oder
destabilisiert werden. Als derartige sekundären Neubildungen können
wir die alterspezifischen Operationen und Repräsentationen betrachten.
Doch hierzu später mehr.
Allgemeinbiologisch ist Hyperaktivität ein Teil von Streßreaktionen;
sie ist deren erste Phase. Sie kann jedoch auch zum Modus dauerhafter Streßbewältigung,
und damit Reduzierung des Stress werden, wie dies die empirisch sorgfältig
fundierte Theorie des russischen Physiologen KRYZHANOVSKY (1986) zur Pathologie
des ZNS herausarbeitet. Unter Bedingungen von Neuigkeitsüberschwemmung
beziehungsweise Informationsentzug adaptieren Systeme an diese neue Situation,
insofern sie ihre Eigenzeit erhöhen und gleichzeitig Reafferenzen, also
Rückmeldungen von ihrer Peripherie unterdrücken. Dies scheint in der
Tat ein Effekt langfristig anhaltender ADHD zu sein. Ergebnisse eines psychiatrischen
Forschungsprojektes von KING u.a. (1998) ergaben, dass Personen mit ADHD, die
diese Störung noch nach einem Jahr aufrechterhielten, im Vergleich zu Personen,
bei denen die Störung verschwunden war, geringeren Stress zeigten.
ZIMPEL (2000 a) hat im Kontext seiner Erörterung des ADS hierzu den hoch
interessanten Gedanken aus PIAGETs genetischer Erkenntnistheorie herangezogen
(1996, 69), dass der Begriff der Bewegung den Begriffen von Raum und Zeit vorrangig
ist. Raum wäre eine Koordination der Bewegungen, ohne Geschwindigkeiten
in Betracht zu ziehen, Zeit die Koordination von Bewegungen und ihren Geschwindigkeiten.
Die Wirkweise pathologischer funktioneller Systeme, von denen KRYZHANOVSKYs
Buch handelt, würde auf einen im Sinne PIAGETs rückgekoppelten sensomotorischen
Mechanismus - auf Zellebene, auf Organ- und auf Organismusebene - hinweisen:
Der Verlust von räumlicher Orientierung würde demnach vorrangig durch
zeitliche Beschleunigung bewältigt. Gleichzeitig würde dies aber auch
bedeuten, dass die Verstärkung der Hyperaktivität, die mit Beginn
der Schulzeit auftritt, auf einen Verlust an räumlicher Orientierung verweist.
Weitere Kompensationstrategien
Aber ersichtlich gibt es noch andere Kompensationstrategien. Eine unlängst
erschienene vergleichende Untersuchung von Erwachsenen mit ADHD unter Aufmerksamkeitsbedingungen
und Messung des cerebralen Blutflusses mit Positronen-Emmissons-Tomographie
(PET) sowie zusätzlicher Befragung ergab, dass diese andere Strategien
benutzten, insbesondere visuelle Vorstellungen anstelle von verbal-phonologischen
(Schweitzer u.a. 2000).
Dies verweist auf Kompensationsstrategien, wie sie ZIMPEL (2000 b) am Verhältnis
von Eigenzeit und Zeichensystemen des Denkens diskutiert. Er zitiert den herausragenden
Gedächtniskünstler SCHERESCHEWSKI, den LURIJA (1992) ausführlich
beschrieben hat. Viele Menschen hielten SCHERESCHEWSKI für einen langsamen
und ungewandten, ein wenig konfusen Menschen, dem abstrakte Ideen Qualen bereiteten.
Alles was er dachte, mußte er sich visualisiert vorstellen. Aber die Immunität
seines Denkens vor Beschleunigungen schützte ihn auch vor Fehlern. "Sein
'inneres Sehvermögen', das ihn zwang, sich immer konkreter Objekte zu bedienen
und Zahlen stets mit Anschauungsbildern zu verbinden, liess keine formalen Lösungen
zu" (230). ZIMPEL (2000 b) bemerkt: "Zeichensysteme vermitteln zwischen
verschiedenen Eigenzeiten, denn mit ihrer Hilfe können Gedächtnis,
Wahrnehmung und Bewegung je nach Bedarf beschleunigt oder gebremst werden".
Bedeutet ADHD, dass während der Schulzeit Prozesse der erhöhten Neuigkeitsbewältigung
im psychischen Raum ins Spiel kommen und dass die Schule gleichzeitig hierfür
nichts bietet? Und reicht ZIMPELs Hinweis auf die Lernnotwendigkeiten von Kindern
mit ADS unter diesem Aspekt bereits aus, dass für sie gewährleistet
sein müßte, "dass ihnen genügend Kulturgüter zur Verfügung
stehen, an denen sie ihr Bedürfnis nach Witz und Aktion ausleben können?"
(2000 a, 177): Einerseits ja, jedoch andererseits nein, weil hier die Bedingungen
des mit dem Schulbesuch erreichten neuen Repräsentationsniveaus noch nicht
hinreichend reflektiert sind. Meines Erachtens ist die besondere Bedeutung hyperaktiver
Kompensationsstrategien in diesen Alter nur teilweise den restriktiven Lernbedingungen
von Schulen geschuldet.
Darüber hinaus kommen Besonderheiten eines neuen psychischen Repräsentationsniveaus
in Spiel, welche die Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit in besondere Probleme
bringen. Wir erinnern uns: Als Kern des Syndroms hatten wir es betrachtet, Müdigkeit
und Langeweile leichter ausgesetzt zu sein. Und wir folgen probeweise einmal
der Spur, welche die zitierte Untersuchung von SCHWEITZER u.a. (2000) aufgezeigt
hatte: Reduzierte verbal-phonologische Rückkoppelung in der Vorstellungswelt.
Bevor ich diese Spur jedoch näher verfolge, ist die Frage nach der Berechtigung
zu stellen, sie vorrangig zu verfolgen. Gibt es Gründe, entwicklungsniveauspezifische
Veränderungen von Aufmerksamkeitsnetzwerken anzunehmen? Ich möchte
hierfür einige Argumente anführen.
Aufmerksamkeitsnetzwerke und ADS
Die gegenwärtige neuropsychologische Forschung unterscheidet im wesentlichen
drei Aufmerksamkeitsnetzwerke des Gehirns.
Zum einen ist dies ein Netz der visuellen Orientierung, das den hinteren Bereich
der Großhirnrinde und subkortikale Prozesse so verbindet, dass visuelle
Raumorientierung im Sinne von Lösen, Verschieben und Zentrieren möglich
ist (Posner/Raichle 1996, 183). Das visuelle Aufmerksamkeitsnetzwerk umfaßt
den hinteren Parietallappen (Loslösen aus einer räumlichen Verortung),
den Colliculus superior (Verschieben der Aufmerksamkeit) sowie einen Teil des
Thalamus, das Pulvinar (Zentrieren des Aufmerksamkeitsfokus). Es gibt Hinweise
auf die Beteiligung der Basalganglien und tiefer liegender Teile der Frontallappen.
Ersichtlich haben die Versuchspersonen in der zitierten Untersuchung von SCHWEITZER
u.a. (2000) kompensatorisch auf dieses System zurückgegriffen..
Zweitens existiert ein exekutives Netzwerk im Bereich der Basalganglien und
des Gyrus cinguli, dies ist eine Region im präfrontalen Kortex von der
aus sich das Arbeitsgedächtnis als Ort bewusster Orientierung organisiert
(Posner/Raichle 1996, 188). In dieses System mit einbezogen sind auch jene Bereiche
der Temporalregion, auf welche die Versuchspersonen von SCHWEITZER u.a. zur
Realisierung phonologischer Rückkoppelungen nicht hinreichend zurückgreifen
konnten. Da diese Personen jedoch ansonsten keinerlei Probleme im Sprachverständnis
haben, muss dies etwas mit ihrer Bewegung im inneren Raum, in der inneren Sprache
zu tun haben. Diese Quasibewegungen' in einem Quasiraum' (Lurija
1980, Leont'ev 1982) bilden zudem, wie wir wissen, als linkshemisphärische
Funktion die Grundlage der Trennung des Wissensgedächtnisses vom biographischen
Gedächtnis (vgl. Markowitsch 1996). Diese Funktion lateralisiert sich im
späten Vorschulalter und frühen Schulalter. Für Probleme in diesem
Bereich sprechen auch geringere Durchblutungswerte in linksseitigen frontalen
Mustern bei Jungen mit ADS im Alter von viereinhalb bis acht Jahren gegenüber
einer Kontrollgruppe, und aus der gleichen Untersuchung von eher rechts frontal
lateralisierten Mustern bei Mädchen wiederum gegenüber einer Kontrollgruppe
(Baving u.a. 1999).
Alle vorliegenden Befunde sprechen vorrangig für Veränderungen im
exekutiven Aufmerksamkeitsnetzwerk, obgleich darüber hinaus Einflüsse
eines dritten rechtshemisphärischen Aufmerksamkeitsnetzwerkes (vgl. Posner/Raichle
191 ff) nicht völlig auszuschließen sind, so Untersuchungen, die
TAYLOR zitiert (1999, 614). Dieses rechtshemisphärische Netzwerk sichert
die allgemeine Vigilanz, d.h. erhöhte Wachsamkeit.
Zurück zum exekutiven Netzwerk: Seine Funktion wird erstmals sichtbar,
wenn im Alter von ca. acht Monaten ein erstes Repräsentationsniveaus des
Selbst erreicht ist, das auf dem Niveau von PIAGETs sensomotorischem Stadium
IV als sichere Trennung von eigenem Selbst , bedeutsamen anderen Personen und
Weltereignissen anzusetzen ist. Forschungen aus der Arbeitsgruppe von POSNER
(Rothbart u.a. 1994) zeigen, dass das exekutive Netzwerk aufs engste mit der
Realisierung von Repräsentationsniveaus unterschiedlicher Höhe in
Verbindung steht, dass es sehr deutlich vom jeweiligen emotionalen Status beinflußt
wird und gleichzeitig über Funktionen der Kontrolle über diesen verfügt.
Die Autoren heben hervor, dass die Entwicklung dieses Netzwerks im engeren Sinne
erst in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beginnt, "insbesondere
in Relation zur Entwicklung der willentlichen Kontrolle des Verhaltens durch
das Kind", und verweisen zusätzlich auf Verhaltensänderungen,
die um 18 Monate herum eine Weiterentwicklung dieses Systems vermuten lassen..
Um unsere Frage nach entwicklungsniveauspezifisichen Veränderungen von
Aufmerksamkeitsnetzwerken jedoch vertieft zu behandeln, müssen wir auf
neuropsychologische Überlegungen zu Entwicklungsniveaus der psychischen
Prozesse zurückgreifen: Was sind die Besonderheiten des psychischen Feldes,
in welche Kinder mit dem Schulalter eintreten?
ADS und die Entwicklung psychischer Felder im Schulalter
Die Weiterentwicklung der Aufmerksamkeit setzt die Weiterentwicklung psychischer
Felder voraus, auf die sich die Aufmerksamkeit bezieht. Dies wissen wir spätestens
seit den Arbeiten von PIAGET. Mit Beginn des Schulalters ist eine Organisation
der Intelligenz erforderlich, die mit Oberbegriffen zu arbeiten vermag und über
sichere Erhaltungsfunktionen auch für nicht sichtbare Eigenschaften, wie
Volumeninvarianz, Mengeninvarianz u.a.m. verfügt. PIAGET (1984) selbst
hat es als Resultat seiner Debatte mit WALLON anerkannt, dass neben die Erforschung
der verschiedenen Niveaus der Operationen, sensomotorisch, präoperational,
konkret und abstrakt, gleichrangig die Erforschung der Repräsentationsniveaus
des Psychischen zu treten habe, ein Aspekt, der ihm selbst jedoch durchgängig
eher fremd geblieben ist PIAGET geht davon aus, dass seine Behandlung des Aspekts
der Operationen und WALLONs Behandlung des Aspekts der Repräsentation sich
systematisch ergänzen. Leider hat diese Bemerkung für die deutsche
und angloamerikanische Psychologie keine Folgen gehabt, insofern dort, völlig
zu unrecht, WALLON überhaupt keine Rolle spielt.
Was haben wir unter einem solchen Niveau zu verstehen? Betrachten wir es an
der Entstehung des ersten Repräsentationsniveaus: Im Alter von ca. acht
Monaten unterscheiden Säuglinge zwischen ihren körperlichen Bewegungen
und den Gegenständen. Während sie vorher durch Fortsetzung der Bewegung
die Existenz des weggenommenen Gegenstandes andauern lassen wollen, suchen sie
ihn jetzt. Gleichzeitig entdecken sie die Individualität anderer, von sich
getrennter Personen. In kritischen Situationen kann Veränderungsangst auftreten.
D.h. aber nichts anderes, als dass sie begonnen haben, eine psychische Repräsentation
zu realisieren, innerhalb derer sie sich selbst, bedeutsame andere Personen
und Weltereignisse zu trennen vermögen. Dieses erste Repräsentationsniveau
schafft die Möglichkeit von geteilter Aufmerksamkeit, von Dialog, Kooperation
und Imitation. Es bildet die Basis einer im Verlauf der kindlichen Entwicklung
mehrfachen symbolischen und begrifflichen Neu- und Höherorganisation der
Repräsentation. Dafür gibt es unterdessen über die klassische
Entwicklungspsychologie hinaus, wo insbesondere WALLON, jedoch für die
frühe Kindheit auch René SPITZ sich mit derartigen Niveaus oder
psychischen Feldern befaßt haben, heute solide neuropsychologische Hinweise.
Eine Forschungsgruppe um THATCHER hat über den Weg der Erfassung von EEG-Kohärenzen
zyklische Muster der funktionellen Differenzierung der Großhirnrinde über
den gesamten Verlauf der Kindheit hinweg entdeckt. Es existieren bestimmte,
sich spiralförmig überlagernde Zyklen linkshemisphärischer und
rechtshemisphärischer Differenzierung und Abstraktion, die relativ genau
mit zentralen entwicklungspsychologischen Umbrüchen zusammenfallen (Thatcher
1994).
So erfolgt im Alter von eineinhalb bis zweieinhalb Jahren ein (linkshemisphärischer)
Übergang dessen (rechtshemisphärische) Konsolidierung mit ca. vier
bis fünf Jahren abgeschlossen ist. Die Autoren benennen dies als "Sensomotorisch-Linguistische
und Emotionale Differenzierung". Er entspricht der symbolischen Repräsentation,
innerhalb derer ca. mit drei Jahren ein symbolisiertes Ich in einem symbolisierten,
d.h. sprachlichen Raum entsteht.
Die noch ganz ereignisgebundene, sprachliche Organisation des psychischen Raums
von Kindern in diesem Alter beginnt sich in Form der Entwicklung einer inneren
Position im späten Vorschulalter und frühen Schulalter nach innen
zu verlagern. Es entwickelt sich eine begriffliche Justierung im Wissensgedächtnis,
die es ermöglicht, Dinge unabhängig von der Situation ihres Auftretens
zu behandeln. Ein Übergang von Ereigniszusammenhängen zu relationalen
Zusammenhängen entsteht, hierarchische Denkstrukturen auch oberhalb des
Bereichs der konkreten Erfahrungen bauen sich auf und werden nutzbar (vgl. Jantzen
1987, Kap. 5). Oder, wie des VYGOTSKIJ bereits in "Denken und Sprechen"
(1972) ausführlich dargestellt hat: Es erschließt sich der Raum der
wissenschaftlichen Begriffe oberhalb des Niveaus der Alltagsbegriffe.
Dies bedeutet aber, dass auch die Aufmerksamkeit neu organisiert wird, denn
Handlungen und Objekte gehen jetzt eine neue Konfiguration ein, so VYGOTSKIJ
in seinen Überlegungen zur Entwicklung von "Wahrnehmung und Aufmerksamkeit"
(Vygotsky 1978). Es entsteht ein höheres System der Orientierung in den
Relationen zwischen den verschiedenen Begriffen, das durch eine "funktionelle
Barriere" vom vorherigen Niveau abgetrennt ist. Die inneren Wahrnehmungsfelder
des Kindes, in denen es sich orientiert, sind jetzt zunehmend weniger nur durch
die Reihenfolge der Erlebnisse verbunden - dies gilt im Alltag nach wie vor
-sondern durch die inneren Relationen von sozial erworbenen Bedeutungen.
Diesen Übergang arbeiten THATCHER und Mitarbeiter als weiteres neues Repräsentationsniveau
heraus. Über linkshemisphärische Abstraktion im Alter von fünf
bis sechs Jahren, bilaterale Regulation im Alter von achteinhalb Jahren und
rechtshemisphärische Systemintegration im Alter von neun Jahren entwickelt
sich ein neues Repräsentationsniveau, das sie als "Abstraktion und
Systemintegration" kennzeichnen. Es wird in der Pubertät im Alter
von 13 bis 15 ½ Jahren von einem weiteren Niveau überlagert, das
als Niveau der "multidimensionalen Abstraktion" bezeichnet wird.
Genau dieser Prozess der "Abstraktion und Systemintegration", der
im Alter von fünf bis sechs Jahren beginnt und mit neun Jahren abgeschlossen
ist, ist bei Kindern mit ADS Syndrom deutlich anders. Aus den hier auftretenden
Problemen erklärt sich in neuropsychologischer Hinsicht das Drama der Kinder
mit ADS-Syndrom unter den Regelbedingungen der Schule. Für sie ist es schwerer,
Bezüge zwischen bildlichen und sprachlichen Vorstellungen im inneren psychischen
Raum herzustellen. Dies haben sie im bisherigen, auf der Ebene des biographischen
Gedächtnis orientierten Denken mit sehr viel weniger Schwierigkeiten gekonnt.
Bei nur in sprachlicher Form realisierten begrifflichen Aufgaben ermüden
sie schneller, nicht, weil sie nicht begrifflich denken können, sondern
weil es für sie aufgrund ihrer anderen, eher strategischen Aufmerksamkeitsregulation
wichtig ist, gerade diesen visuellen Bezug als Grundlage zu erhalten. Dieser
kann sich übrigens, wie schon am Beispiel von LURIJAs Gedächtniskünstler
andiskutiert, als großer Vorteil erweisen.
Dies hebt insbesondere Thom HARTMANN (1997) hervor, selbst vom ADS-Syndrom betroffen
und neben Tätigkeiten als erfolgreicher Unternehmer, als Journalist u.a.m.
auch langjähriger Leiter einer Einrichtung für Kinder mit ADS-Syndrom.
Er verweist am Beispiel zahlreicher bedeutender Wissenschaftler, Forscher und
Politiker, die ersichtlich dieses Syndrom hatten, auf Vorteile dieser anderen
Organisation des Bewußtseins. U.a. nennt er Thomas Alva EDISON, Benjamin
FRANKLIN, den berühmten Forschungsreisenden Sir Richard BURTON, den Schriftsteller
Ernest HEMINGWAY oder den schottischen Schriftsteller und Historiker Thomas
CARLYLE. Und um zur Pädagogik zu kommen: Auch Johann Heinrich PESTALOZZI,
so eine Fußnote, könnte ADS gehabt haben.
Die Theorie HARTMANNs ist unter den gegenwärtig existierenden Theorien,
die ADS nicht als Krankheit, sondern als eine in der Evolution begründete
und in menschlichen Populationen nach wie vor vorhandene spezifische Kompetenzstruktur
zu begründen versuchen, die bekannteste und attraktivste (vgl. Shellay-Tremblay
und Rosén 1996). ADS-Symptome entsprechen, als Kompetenzen gelesen, den
Fähigkeiten von Jägern, schnell die Orientierung zu ändern, sich
visuell-räumlich komplex zu orientieren, auf hohem Aktivitätsniveau
langfristig ein Ziel zu verfolgen. Sie haben innerhalb der Normalverteilung
in heutigen Populationen ihr Gegenstück in den Fähigkeiten von Bauern.
Normalerweise sind diese Fähigkeiten, die Polaritäten darstellen,
gemischt. Jedoch an beiden Enden der Verteilungskurve, so HARTMANN, treten sie
eher in reiner Form auf. Folglich existiert als Gegenstück der der ADS
(bzw. ADD: Attention-Deficit-Disorder) die TSDD, die Aufgaben-Wechsel-Störung
(Task-Switching-Deficit-Disorder).
HARTMANN benennt eine Reihe von eindrucksvollen Beispielen aus Wissenschaft
und Kultur, die eher dem ADS-Pol zuzuordnen sind. Ich will nicht verschweigen,
dass ich selbst mich höchst deutlich in dieser Beschreibung wiederfinde
und auch meine reichlich verkrachte Schulkarriere durchaus unter dieser Dimension
gesehen werden kann. Dies macht mir die Annahmen HARTMANNs sympathisch.
Darüber hinaus weist das Buch jedoch in verschiedenen Passagen auf das
uns interessierende Problem hin, den Raum abstrakter Begriffe im beginnenden
Schulalter verbal umorganisieren zu müssen. Insofern hilft es uns, ein
Stück Innensicht dieser Umorganisation zu erschließen.
Kinder mit ADS-Syndrom haben Probleme mit der Verarbeitung rein akustischer
Informationen. Ein Mensch mit ADS hört "vielleicht nur die Worte,
ohne sich gleichzeitig vor dem geistigen Auge die zugehörigen Bilder vorzustellen,
die so lebenswichtig für das Erinnern sind. Er fährt zum Laden und
wiederholt auf dem Weg immer wieder: "Milch, Brot, Saft, Benzin" [...]
bis ihn irgend jemand ablenkt, und er das Ganze vergißt" (25). Das
Grundproblem der nicht hinreichend gelingenden Umsetzung auditiver in visuelle
Information könnte durchaus ein gelerntes Problem sein, da dieses Verhalten
in jener Zeit erworben wird, wo Menschen sich sprachlich ausdrücken lernen,
also im Alter zwischen zwei und fünf Jahren (26).
Vorzüge von Jägern, also von Menschen mit ADS, sind: Sie denken visuell,
strategiebezogen und sind in der Lage diese Strategien flexibel abzuändern.
Sie können lange Strecken durchstehen, aber nur, wenn sie "auf einer
heißen Spur" sind und ein Ziel verfolgen (37). Kinder mit ADS haben
zwar eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, aber dafür eine Menge ausgleichender
Eigenschaften "z.B. ihre unersättliche Neugier, die ständig wache
Beobachtung ihrer Umgebung und sehr breit gefächerte Interessen" (45).
Und natürlich können sie trainieren, Wörter in Bilder umzuwandeln.
Soweit HARTMANN.
Kinder mit ADS sind also geradezu prädestiniert, so können wir folgern,
sich langfristig mit komplexen Aufgaben auseinanderzusetzen, wenn diese ihr
Interesse finden. Fügt man ZIMPELs (2000 a), auf PIAGET bezogene Überlegung
zur Strukturierung von Raum und Zeit durch Bewegung hinzu, so kompensieren Kinder
mit ADS ihre räumliche Schwäche durch Geschwindigkeit und - sofern
ihnen dies ermöglicht wird - durch strategische Genauigkeit, die für
mehrere räumliche Alternativen offen ist. Auf eine visualisierte Grundlage
ihrer Orientierung sind sie hierbei in besonderer Weise angewiesen.
Ich hatte darauf verwiesen, dass es für Kinder mit ADS schwerer ist, Bezüge
zwischen bildlichen und sprachlichen Vorstellungen im inneren psychischen Raum
herzustellen. Besser gesagt: In nur sprachlich organisierten Räumen ohne
visuelle Grundlage ermüden sie schneller. Sie sind eher für sie langweilig,
es sei denn, sie sind mit ihrer eigenen flexiblen und visualisierten Strategie
verknüpft. Dies wirft beim Übergang in einen nicht mehr erlebnisbezogenen
sondern relationsbezogenen Wissensraum enorme Problem auf. Aber natürlich
können Kinder auch in diesem Raum ihre "Jägereigenschaften"
nutzen, lernen wie man lernt, und hohe Kompetenzen entwickeln. Dies setzt allerdings
in der Regel andere Organisationsformen von Schule und Unterricht voraus, Formen,
die dem individualisierten Lernen aller anderen Kinder ebenfalls höchst
bekömmlich sind (vgl. auch Hartmann 1997, 90). Doch dies ist bereits ein
anderes Thema. Hier interessierte mich ADS als soziale Konstruktion.
Schlußbemerkungen: Oder über die Notwendigkeit der Anerkennung der
Vielfalt in der Differenz
Soziale Institutionen konstruieren die Wirklichkeit ihrer Mitglieder, insofern
diese selbst diese Konstruktionen hervorbringen und ändern. Änderungen
zu Lasten einer Gruppe erfolgen immer dann, wenn sich das Feld der Macht in
Institutionen verschiebt, wenn also Individuen eher an den Pol der Ohnmacht
gedrängt werden. Besonders deutlich ist dies an totalen Institutionen,
wie z.B. Anstalten für Behinderte oder psychiatrische Einrichtungen, zu
sehen. In der Not des Alltags konstruiert das Personal ständig Urteile
und Menschenbilder, die Auffälligkeiten entweder auf Krankheit zurückführen,
also biologisieren, oder auf Devianz, also kriminalisieren. Die Basis dieser
Krankheits- und Devianzurteile ist der Verlust der historischen Sicht der Insassen,
die nur noch als "Fall von", also naturalisiert, individualisiert
und enthistorisiert erscheinen. Unter diesen Bedingungen kann persönliche
Verantwortung nur allzu leicht verloren gehen und sogenannte "Beziehungsarbeit"
nur den Erhalt des Systems realisieren. Die Besonderheit dieser totalen Institutionen
ist es, dass das Macht-Ohnmachts-Gefälle sich so verschoben hat, dass die
sozialen Kämpfe am Pol der Ohnmacht erliegen und nur noch individualisiert
in Form von Auffälligkeiten der Insassen erscheinen.
Das Personal dieser Einrichtungen unterliegt auf höherem Niveau vergleichbaren
Prozessen: Gering ausgebildet, hat es auf der "Hinterbühne" die
Ökonomie gesellschaftlicher Ausschlußprozesse aufrechtzuerhalten,
bei gleichzeitiger Präsentation von "Humanität" auf der
Vorderbühne. Unter diesen Bedingungen erscheint der Widerstand der Insassen
ebenso als Loyalitätsentzug, wie das Im-Stich-lassen durch die Oberen,
so die einschlägigen soziologischen Analysen dieses Bereichs.
Aber die Lehrer an Schulen sind in einer ähnlichen Situation: Sie sollen
pädagogische Arbeit leisten und es soll, heute mehr denn je, mit Kindern
anständig umgegangen werden, Auf der anderen Seite sind die Lehrer in der
öffentlichen Meinung, zumindest so lange es noch Lehrerüberschuss
gab, "faule Säcke". Und innerhalb der Schulaufsichtssysteme wird
- dies wiederum in einen größeren Rahmen von Kontrolle eingebaut
- mehr Qualität gefordert. Es werden Systeme der Qualitätssicherung
propagiert, die häufig genug Systeme erhöhter sozialer Kontrolle sind.
Und hinzu kommen Elteransprüche, die nicht immer, um mich vorsichtig auszudrücken,
nachvollziehbar oder von der Form her akzeptabel sind.
Dieser mehrfache Loyalitätsentzug ist für Lehrerinnen und Lehrer nur
allzu sehr spürbar und unreflektiert mit Sicherheit unerträglich.
Unter Bedingungen von Globalisierung und Deregulierung sollen sie einerseits
unter größerem Druck noch besser arbeiten, wird massiv ihr sozialer
Kredit, ihr symbolisches Kapital in der Gesellschaft demontiert. Sie selbst
erfahren also Verschiebungen vom Pol der Macht zum Pol der Ohnmacht durch das
gesamte System der Deregulierung der Bildungspolitik. Auf der anderen Seite
sind sie den Folgen zunehmender Prekarisierung großer Teile der Bevölkerung
ausgesetzt, die sich in Form von z.T. unerträglichen Umgangsformen in die
Schulen zurück vermittelt (Prekarisierung: ein von Bourdieu verwendeter
soziologischer Begriff, um die Gesamtheit prekärer Lebenslagen zu kennzeichnen).
Wird dieser Kontext nicht reflektiert, so finden hier gerade unter diesen Bedingungen
biopolitische Strategien einen fruchtbaren Boden. Die Möglichkeit, sog.
unangemessenes Verhalten von Kindern als biologischen Defekt zu begreifen, der
medizinisch behandelt werden kann, liegt in solchen Situationen nur zu sehr
auf der Hand. Im übrigen zeigt die Geschichte des deutschen Kaiserreiches,
dass unter den Bedingungen des Hereinströmens des Proletariats in die Städte
eine vergleichbare Debatte um "Kinderfehler,, geführt wurde, von denen
bis zu 70 % der Kinder befallen sein sollten. Und in der Weimarer Republik war
die Debatte um die "psychopathisch minderwertigen" Kinder, die etwa
20 % - 25 % der Schülerschaft ausmachen sollten, die ständige Begleitmusik
insbesondere der Hilfsschul- und Volksschulpädagogik (vgl. Voß 1983;
Jantzen 1982).
Unter derartigen Bedingungen, so lehren die Geschichte und die heutige Situation,
wird sehr leicht persönliche Verantwortung gegenüber einzelnen Kindern
substituiert und durch technisch-formale Verantwortung ersetzt. Und genau dies
eröffnet den Einstieg in Segregation und Biopolitik.
Ich wäre nun gänzlich falsch verstanden, wenn dies als moralischer
Appell verstanden würde, sich noch mehr zusammenzureißen und in unerträglichen
Situationen immer noch ein Stück zu funktionieren. Ich meine auch nicht,
dass in der jeweiligen Einzelsituation es unsinnig wäre, auch einmal an
ein Medikament zu denken, um eine Situation deeskalieren zu können. Ich
spreche vielmehr von jener reflexiven Distanz zu der eigenen pädagogischen
Situation, die ohne gefühlsmäßige Nähe zu Kindern nicht
aufrecht erhalten werden kann und die gleichzeitig Voraussetzung ist, um diese
gefühlsmäßige Nähe aufrechterhalten zu können. Ich
spreche von jener persönlichen Verantwortung, die ich - und dies beziehe
ich hier ausschließlich auf mich - bereit bin, um meiner selbst willen
einzugehen, und sei es nur, wie Hannah ARENDT einmal bemerkte, weil ich den
Rest meines Lebens mit mir selbst zusammen leben muß. Moralisieren liegt
mir völlig fern, aber anstiften möchte ich, soziale Ungerechtigkeit,
also Prekarisierung und Ausgrenzung von Kindern, nicht auf Schicksal und Natur
zu reduzieren. Anstiften möchte ich, Biopolitik in dem genannten Sinne
in keiner Weise zu bedienen und aus Prinzip und unter allen Umständen ihr
gegenüber völlig uneinsichtig zu sein. Anstiften möchte ich,
ADS prinzipiell als Kompetenz von Kindern in ihrer Vielfalt und Differenz zu
betrachten und sich, wo immer es geht, dem herrschenden Normalisierungsterror
zu verweigern.
Literaturverzeichnis
APA (American .Psychiatric. Association): Diagnostic and Statistical Manual
of Mental Disorders, Fourth Edition. DSM-IV. Washington 1994
BARBEN, Judith; BAU, A.: Ritalin - die verkannte Gefahr. Zeit-Fragen, Nr. 65
vom 27.03.2000, 9. URL: <http//www.Ritalin-Kritik.de/Artikel/>
BAVING, L. et al.: Atypical Frontal Brain Activation in ADHD: Preschool and
Elementary School Boys and Girls. Journal of the American Academy of Child and
Adolescent Psychiatry 38 (1999) 11, 1363-1371
BENES, Francine M.: Developmental Changes in Stress Adaptation in Relation to
Psychopathology. Development and Psychopathology 6 (1994), 723-739
BERNSTEIN, N.A.: Die Entwicklung der Bewegungsfertigkeiten. Leipzig (Inst. f.
angew. Trainingswiss. e.V.) 1996
BIEDERMAN, J. et al.: Gender Differences in a Sample of Adults with Attention
Deficit Hyperactivity Disorder. Psychiatry Research 53 (1994) 1, 13-29
BOURDIEU, P.: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie
des wisenschaftlichen Feldes. Konstanz 1998
BREGGIN, P.: Werden zu häufig verhaltensverändernde Medikamente für
amerikanische Schulkinder verschrieben? URL: Bethesda/Maryland 2000, URL: <http//www.Ritalin-Kritik.de/Artikel/>
CARLSON, Elizabeth A.: A Developmental Investigation of Inattentiveness and
Hyperactivity. Child Development 66 (1995), 37-54
CICCHETTI, D.; ABER, J.L.: Contextualism and Developmental Psychopathology.
Development and Psychopathology 10 (1998), 137-141.
CONRAD, P.: Die Entdeckung der Hyperkinese. Anmerkungen zur Medizinisierung
abweichenden Verhaltens. In: Voß, R. (Hrsg.): Pillen für den Störenfried?
Absage an eine medikamentöse Behandlung abweichender Verhaltensweisen von
Kindern und jugendlichen. Hamm 1983, 93-106
DILLING, H.; FREYBERGER, H.J. (Hrsg.): Taschenführer zur Klassifikation
psychischer Störungen. ICD-10. Bern 1994
EDELMAN, G.M.: Unser Gehirn - ein dynamisches System. München 1993
FAMULARO, R. et al.: Psychiatric Comorbidity in Childhood Post Traumatic Stress
Disorder. Child Abuse and Neglect 20 (1996) 10, 953-961
FISCHER, K.W. et al.: Psychopathology as Adaptative Development Along Distinct
Pathways. Development and Psychopathology 9 (1997), 749-779
FORD, J.D. et al.: Trauma Exposure among Children with Oppositional Defiant
Disorder and Attention-Deficit-Hyperactivity Disorder. Journal of Consulting
and Clinical Psychology 67 (1999) 5, 786-789
FOUCAULT, M.: Leben und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus. In: Reinfeldt,
S. u.a. (Hrsg.): Bio-Macht. Biopolitische Konzeptionen der Neuen Rechten. Duisburg
(DISS) 1993², 27-50.
GAUB, M.; CARLSON, C.L.: Gender Differences in ADHD: A Meta-Analysis and Critical
Review. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 36
(1997) 8, 1083-1045
HALLOWELL, E.M.; RATEY, J.: Zwanghaft zerstreut oder die Unfähigkeit, aufmerksam
zu sein. Reinbek 1999
HARTMANN, T.: Eine andere Art, die Welt zu sehen. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.
Lübeck 1997²
HERMANN, U.: Wundermittel Ritalin? Leserbrief. Bremer Lehrerzeitung (2001) 2,
22
INCB: Europäer nehmen Beruhigungsmittel - Amerikaner nehmen Aufputschmittel.
INCB Jahresbericht 1998. Pressemitteilung Nr. 4, 23. 2. 1999. UNO-Informationsdienst,
Bonn 1999
JANTZEN, W.: Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens. München
(DJI) 1992
JANTZEN, W.: Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. 1. Sozialwissenschaftliche
und psychologische Grundlagen. Weinheim 1987
JANTZEN, W.: Allgemeine Behindertenpädagogik Bd. 2. Neurowissenschaftliche
Grundlagen, Diagnostik, Pädagogik und Therapie. Weinheim 1990
JANTZEN, W.: Vernunft - Natur - Normalität. Bemerkungen zur Kritik der
relationalen Vernunft. In: Schildmann, Ulrike (Hrsg.): Normalität, Behinderung
und Geschlecht. Opladen 2001, i.V..
JENSEN, P.S.; HOAGWOOD, Kimberly: The Book of Names: DSM-IV in Context. Development
and Psychopathology 9 (1997), 231-249
KING, J.A. et al.: Attention-Deficit Hyperactivity Disorder and the Stress Response.
Biological Psychiatry 44 (1998) 1, 72-74
KRYZHANOVSKY, G.N.: Central Nervous System Pathology. New York 1986
LEONT'EV, A.A.: Psychologie des sprachlichen Verkehrs. Weinheim 1982
LÉVINAS, E.: Ethik und Unendliches. Wien 1992
LEWIS, M.H. et al.: Neurobiological Basis of Stereotyped Movement Disorder.
In: Sprague, R.L.; Newell, K.M. (Hrsg.): Stereotyped Movements: Brain and Behavior
Relationships. Washington, DC 1996. 37-67
LURIA, A.R. (Lurija): Sprache und Bewußtsein. Köln 1980
LURIJA, A.R.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Reinbek 1991
MARKOWITSCH, H.: Neuropsychologie des menschlichen Gedächtnisses. Spektrum
der Wissenschaft ( 1996) 9, 52-61
NEWCORN, J.H. et al.: Symptom Profiles in Children with ADHD: Effects of Comorbidity
and Gender. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry
40 (2001) 2, 137-146
PHELAN, T.: All About Attention Deficit Disorder. Symptoms, Diagnosis and Treatment:
Children and Adults. Illinois 1996
PIAGET, J.: The Role of Imitation in the Development of Representational Thought.
In: Voyat, G. (Ed.): The World of Henri Wallon. London 1984, 105-114
PIAGET, J.: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie. Frankfurt/M.
(Suhrkamp) 1996
POSNER, M.I.; RAICHLE, M.E.: Bilder des Geistes. Hirnforscher auf den Spuren
des Denkens. Heidelberg 1996
RICHTERS, J.E.: The Hubble Hypothesis and the Developmentalist's Dilemma. Development
and Psychopathology 9 (1997), 193-229
ROTHBART, Mary K. et al.: Orienting in Normal and Pathological Development.
Development and Psychopathology, 6 (1994), 635-652.
SACKS, O.: Awakenings - Zeit des Erwachens. Reinbek 1995
SCHMIDT, M. H.: Minimale zerbrale Dysfunktion: Das MCD-Konzept ist überholt.
Deutsches Ärzteblatt - Ärztliche Mitteilungen 89 (1992) 6, A1, 378-384;
A2, 378-384; B, 273-276; C, 239-242.
SCHRAG, P.; DIVOKY, Diane: The Myth of the Hyperactive child and Other Means
of Child Control. Harmondsworth/Middlesex 1981
SCHWEITZER, Julie B. et al.: Alterations in the Functional Anatomy of Working
Memory in Adult Attention Deficit Hyperactivity Disorder. American Journal of
Psychiatry, 157 (2000), 278-280.
SERGEANT, J.: The Cognitive-Energetic Model: An Empircal Approach to Attention-Hyperactivity
Deficit Disorder. Neuroscience and Behavioral Reviews, 24 (2000) 1, 7-12.
SHELLEY-TEMBLAY, J.F.; ROSÉN, L.A.: Attention Deficit Hyperactivity Disorder:
An Evolutionary Perspective. Journal of Genetic Psychology, 157 (1996) 4, 443-453.
SROUFÉ, A.: Psychopathology as an Outcome of Development. Development
and Psychopathology, 9 (1997), 251-268.
STEINBERG, M.: Ritalin und Prozac: Opium fürs Volk. Neue Solidarität,
Jg. 23.08.2000, 1. URL: <http//www.Ritalin-Kritik.de/Artikel/>
STEINSCHULTE, Angelika: Ritalin: Gabe nur in Ausnahmefällen. Neue Solidarität,
Nr. 34, 23.0.2000, 5. URL: <http//www.Ritalin-Kritik.de/Artikel/>
TANNOCK, Rosemary: Attention Deficit Hyperactivity Disorder: Advances in Cognitive,
Neurobiological, and Genetic Research. Journal of Child Psychology and Psychiatry
39 (1998) 1, 65-99
TAYLOR, E.: Developmental Neuropsychopathology of Attention Deficit and Impulsiveness.
Development and Psychopathology 11 (1999) 3, 607-628
THATCHER, R.W.: Psychopathology of Early Frontal Lobe Damage: Dependence on
Cycles of Development. Development and Psychopathology 6 (1994), 565-596
VOSS, R. (Hrsg.): Pillen für den Störenfried? Absage an eine medikamentöse
Behandlung abweichender Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen. Hamm
1983.
WYGOTSKI, L.S. (Vygotskij): Denken und Sprechen. Frankfurt/M. 1972.
VYGOTSKIJ, L.S.: Die Entwicklung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Übersetzung
ins Deutsche aus Vygotsky, L.S. "Mind in Society". Cambridge/Mass.
1978, 31-37; Hamburg 2001; URL: <http://home.t-online.de/Andre.Zimpel/>
VYGOTSKIJ, L.S.: Die Psychologie und die Lehre von der Lokalisation psychischer
Funktionen. In: Wygotski, L.S.: Ausgewählte Schriften Bd. 1. Köln
1985. 353-362
VYGOTSKIJ, L.S.: The Diagnostics of Development and the Pedological Clinic for
Difficult Children. In: Vygotsky, L.S.:The Fundamentals of Defectology. Collected
Works. Vol. 2. New York 1993. 241-291.
WASHINGTON, LeAnna: Psychopharmaka sind der falsche Weg. Neue Solidarität,
Nr. 34, 23.08.2000, 4. URL: <http//www.Ritalin-Kritik.de/Artikel/>
WEINBERG, F.: Attention Deficit Disorder. In: Flehmig, Inge; Stern, L. (Hrsg.):
Kindesentwicklung und Lernverhalten/ Child Development and Learning Behhaviour.
Stuttgart/New York (G. Fischer) 1986. 203-222
WEINSTEIN, D. et al.: Attention-Deficit Hyperactivity Disorder and Posttraumatic
Stress Disorder: Differential Diagnosis in Childhood Sexual Abuse. Clinical
Psychology Review 20 (2000) 3, 359-378
WITTGENSTEIN, L.: Werke Bd. 8. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1984
ZDF-Ratgeber 'Volle Kanne, Susanne': ADS/Hyperaktivität und Ritalin. ZDF-Online,
Mainz 23.3.2000.
ZEINER, P.: Clinical Characteristics and Treatment of Attention Deficit Hyperactivity
Disorder in Children. Oslo 1999
ZIMPEL, A.: Gedanken schlagen gegen Fingerspitzen. Auffälligkeit und Zirkularität
als Analyseeinheiten des Lernens. In: Katzenbach, D.; Steenbuck, O. (Hrsg.):
Piaget und die Erziehungswissenschaft heute. Frankfurt/M. 2000, 147-207
ZIMPEL, A.: Zeichen und Zeit oder was den Geist bewegt. Unpubl. Manuskript.
Hamburg 2000
Zusammenfassung:
Zur Zeit nimmt die Diagnose ADS massiv zu und damit einhergehend das Versprechen,
durch Medikamente wirksame Besserung zu erzielen. Dies scheint bei einer Störung
mit hoher "genetischer Bedingheit" auf der Hand zu liegen. Doch sind
derartige Vorstellungen unvereinbar mit entwicklungspsychopathologischen und
neuropsychologischen Theorien und Befunden. Ein Kernproblem von ADS ist erhöhte
Ermüdbarkeit, auf die bezogen Kinder verschiedene Kompensationsstrategien
(u.a. Hyperaktivität) entwicklen. Mit dem Schulalter kommen entwicklungsniveauspezifische
Probleme des Verhältnises von visueller und verbaler Repräsentation
ins Spiel. Eine nicht defizitäre Sicht könnteADS als Grundlage spezifischer
Kompetenzen betrachten. Als defizitäre soziale Erscheinung ist ADS in jedem
Falle das Resultat von sozialen Konstruktionen unterschiedlicher Ebenen, für
deren Analyse u.a. Foucaults Theorie der Bio-Macht herangezogen wird.
Anschrift des Verfassers:
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Jantzen
Universität Bremen, FB 12
Institut für Behindertenpädagogik
D-28334 Bremen
E-mail: wjantzen@uni-bremen.de