Über die soziale Konstruktion von Verhaltensstörungen - Das Beispiel "Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom" (ADS)

Wolfgang JANTZEN

"Nur wenn man noch viel verrückter denkt, als die Philosophen, kann man ihre Probleme lösen."
(Ludwig WITTGENSTEIN, 1984, 457)

"Hätte man Edison, Franklin, Nostradamus, Händel, Dali, Ford, Mozart, Hemingway oder van Gogh mit Medikamenten in den 'Normalzustand' zurückgebracht, dann wäre unsere Welt sehr anders und weitaus weniger interessant geworden."
(Thom HARTMANN 1997, 141)

1. Normalität
Um von Verhaltensstörungen zu reden, braucht man einen Maßstab dessen, was normales Verhalten sein könnte. Sind Vielfalt und Differenz normal? Ist Normalität also jener den Individuen aus eigener Ursache zugestandene Modus des Verbleibens im Prozess ihrer Selbstentwicklung, der lediglich seine Grenzen in dem durch den Staat geregelten friedlichen Zusammenleben aller findet, so z.B. die philosophische Position SPINOZAs. Und ist eine derartig gedachte Normalität als freie Entwicklung eines jeden die Bedingung der freien Entwicklung aller, so MARX und ENGELS im "Kommunistischen Manifest"? Ist damit folglich die freie Entwicklung des anderen die Bedingung der freien Entwicklung meiner selbst? Bin ich also, um mich frei zu entwickeln "verantwortlich für den anderen, ohne Gegenseitigkeit zu erwarten und wenn es mich das Leben kosten würde. Die Gegenseitigkeit, das ist seine Sache" so LÉVINAS (1992, 75)?
Die Grundposition eines nicht "normalisierenden" Ansatzes bestimmt LÉVINAS dabei wie folgt: "Es ist äußerst wichtig zu erkennen, ob die Gesellschaft im üblichen Sinn das Ergebnis einer Beschränkung des Prinzips, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, darstellt oder ob sie im Gegensatz dazu aus der Beschränkung des Prinzips, dass der Mensch für den Menschen da ist, hervorgeht" (Lévinas 1992, 62)
Oder wird von einer vorgängigen Normalität ausgegangen, insofern vom Standpunkt einer absolut gesetzten ordnenden Vernunft, so wie dies Zygmunt BAUMAN aufgezeigt hat, die Unterlegenen im Extremfall nur noch als nicht moralfähige Dinge betrachtet werden? Insbesondere der Biologie im Sinne angewandter Bevölkerungspolitik kommt hierbei im modernen Staat eine bedeutende Rolle zu (1993). Ist Normalität dann nur noch das, was möglichst reibungslos Staat und Produktion dient? Wird der Maßstab der Normalität der westeuropäische oder nordamerikanische Mensch mittleren Alters, mit guter Ausbildung und gutem Einkommen, weißer Hautfarbe und männlichen Geschlechtes, wie dies ersichtlich der Normalitätsbegriff der differentiellen Psychologie ist, die alles andere als Abweichung hierzu untersucht?
Wird also von einem relationalen Begriff von Normalität ausgegangen, der nach den Bedingungen eines humanen Zusammenlebens in Vielfalt und Differenz fragt? (vgl. Jantzen 2001) Oder wird ein absoluter Begriff von Normalität als Ordnungsmaßstab gesetzt, vor dem alles andere Abweichung in Form von Krankheit oder Devianz ist? Dies gilt auch für die Behandlung meines Themas. Hier eine Position zu beziehen, die von der notwendigen Anerkennung von Vielfalt und Differenz ausgeht, heißt sich gegen den starken Diskurs neoliberaler Politik zu stellen. Nichts desto weniger ist sie von der Sache her unumgänglich.
Im Gegensatz zur Biologisierung des ADS als weitgehend genetisch bedingte Störung werde ich - ohne den biologischen Diskurs zu leugnen - Sie im folgenden mit der Position konfrontieren, dass ADS eine soziale Konstruktion ist.
Das Buch der Namen
"The book of names", so lautet die Überschrift des kritischen Artikels von JENSEN und HOAGWOOD (1997) zu den psychiatrischen, juristischen und sonstigen Konventionen, die in Form von Mehrheitsbeschlüssen folgenden, nicht aber auf Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie aufbauenden Klassifikationen des psychiatrischen Standardklassifikationssystems DSM-IV (APA 1994). Als solche Konventionen in Form von mehrheitsfähigen Namen finden wir: ADD (Attention-Deficit Disorder), ADHD (Attention-Deficit/Hyperactive Disorder), ADS (Aufmerksamkeits-Defizit Störung) sowie Hyperkinetische Störung: Dies sind die englischsprachigen bzw. deutschsprachigen Bezeichnungen in dem Diagnostischen und Statistischen Handbuch, DSM-IV, der American Psychiatric Association bzw. in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten durch die WHO, in der ICD 10 (Dilling und Freyberger 1994). Dabei werden unterschiedliche Subtypen im Sinne der Kombination von fehlender Aufmerksamkeit und Hyperaktivität unterschieden. Nicht mehr die Rede ist von MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion), da im Rahmen dieses Konzeptes diagnostizierte sog. "Hirnschäden" sich als prognostisch ohne jegliche Bedeutung erwiesen haben, keineswegs also zu einer Störung der Hirnfunktionen führten (Schmidt 1992).
Die beiden entscheidenden Merkmale des Syndroms, Hyperaktivität bzw. Impulsitivität und Unaufmerksamkeit, liegen auf Verhaltensebene. Sie werden nach dem DSM-IV (Ich zitiere die kurze Zusammenfassung von Breggin; zur ausführlichen Beschreibung vgl. DSM-IV. [314.00; 314.01] 78 ff. bzw. ICD-10 [F 90.0; F 90.1; f 90.8, F 90.9] 285 ff.) wie folgt definiert:
Hyperaktivität bzw. Impulsivität:
"Zappelt öfter mit Händen oder Füßen, oder rutscht unruhig auf dem Sitz hin und her; verlässt oft den Platz im Klassenzimmer; läuft häufig herum oder klettert übermäßig in Situationen, in denen es unangebracht ist; hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder an Freizeitaktivitäten unauffällig teilzunehmen".
Unaufmerksamkeit:
"Ist unfähig, konzentriert aufzupassen oder macht Fehler bei den Schulaufgaben; hat häufig Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit beizubehalten; scheint häufig nicht hinzuhören, wenn direkt angesprochen; versagt dabei, Anweisungen einzuhalten oder Hausarbeiten oder Schularbeiten zu machen".
Über die Häufigkeit existieren höchst unterschiedliche Angaben. So spricht die Ottawa-Studie von 1971 von 40 % der Elementarschüler in Ottawa, die Isle of Wight Studie zum gleichen Zeitpunkt (1970) von 1,6 % (Weinberg 1986, 209). Das österreichische Gesundheitsministerium spricht in Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage (Nr. 5722/J-NR/1999) von Angaben im Bereich von 1 % bis 13 %. Das umfangreiche Sammelreferat von TANNOCK (1998, 65) spricht bei konservativer Schätzung von 3-6 % bei einer Überrepräsentation der Jungen zu den Mädchen im Verhältnis von 3:1. Allerdings liegen die regionalen Verordnungssraten für Ritalin, ein Stimulans, das rasche Abhilfe schaffen soll, regional bereits weitaus höher (z.B. in zwei Landkreisen in Virginia 1998 bei 18-20 %; vgl. Steinberg 2000 mit Bezug auf das Journal of the American Medical Association).
Die Koinzidenz mit anderen Störungen ist z.T. sehr hoch. So beträgt die Überlappung mit oppositionellem Trotzverhalten (oppositional defiant disorder), die ICD 10 spricht von "oppositionellem, aufsässigem Verhalten", und "Störungen des Sozialverhaltens" (conduct disorder) 40 - 90 %, mit Stimmungsstörungen (mood disorders 15-20 %, Angststörungen 25 % und Lernstörungen 20 %, obwohl es sich nach DSM-IV bzw. ICD 10 hier zum Teil um einander ausschließende Diagnosen handelt.
Obgleich familiennahe Unterstützung und pädagogische Interventionen höchst erfolgreich sein können geht der Trend eindeutig hin zu einer biologischen Trivialisierung der Ursachen: Genetisch bedingte Hirnschädigungen in Form reduzierter Ausführungskontrolle von Handlungen durch das Frontalhirn verbunden mit Störungen der Neurotransmitterproduktion in subkortikalen Aufmerksamkeitsnetzwerken seien die Ursache von ADD und ADHD. Entsprechend wird, dem klassischen medizinischen Modell verpflichtet, aus gestörter Aufmerksamkeit von Kindern phänomenologisch auf die entsprechenden Ursachen zurück geschlossen und zunehmend Ritalin verordnet.
3. Pillen für den Störenfried
"Pilllen für den Störenfried", so lautet der Titel eines 1983 von VOSS herausgegebenen Buches, das u.a. mit der Übersetzung des Beitrags von CONRAD (1975) die US-amerikanische kritische Debatte auch in Deutschland zugänglich machte. Die wichtigste dieser Pillen ist Ritalin (Methylphenidat). Ritalin ist ein vom Pharmakonzern Novatis produziertes, im Gehirn wirkendes Stimulans (Aufputschmittel). Die mit ihm verwandten Präparate Captagon und Amphetamin sind seit Jahren in der Drogenszene verbreitet und auch Ritalin findet dort zunehmend Gebrauch. In den USA untersteht Ritalin strengen Kontrollen der Betäubungsmittelbehörden, in Deutschland und in der Schweiz darf es nur über ein Betäubungsmittelrezept, in Österreich nur über ein Suchtmittelrezept verschrieben werden. Trotzdem werden in den USA Millionen von Kindern täglich damit behandelt. Die Behandlungsrate in einzelnen Schulen beläuft sich bereits auf 30-40 %, so der Bericht des Internationalen Drogenkontrollrates der UNO (INCB 1998) und obwohl die Fachinformation von Novartis-Pharma ausdrücklich auf eine Medikation erst bei Kindern ab 6 Jahren verweist, werden unterdessen sogar einjährige Kinder mit Methylphenidat behandelt (ebd.).
"Die aggressive Werbung einiger pharmazeutischer Firmen beeinflußt sehr stark das Verschreibungs- und Konsumverhalten", so die Pressemitteilung des UNO- Informationsdienstes (INCB 1998). Auf die außerordentlich enge Verflechtung von Wissenschaft und Pharmaindustrie bei der Behandlung von hyperaktiven Kindern hatten Peter SCHRAG und Diane DIVOKY in dem bereits 1975 erschienenen Buch "The myth of the hyperactive child and other means of child control" verwiesen, "eines der schockierendsten und wichtigsten Bücher, das auf dem Gebiet der Erziehung in den letzten 10 Jahren geschrieben wurde", so die Äußerung eines Rezensenten als Untertitel auf der 1981 erschienen Ausgabe als Penguin-Taschenbuch. Die Erstveröffentlichung 1975 fiel in eine Zeit größerer demokratischer und sozialpolitischer Sensibilität für Mechanismen sozialer Kontrolle. Im gleichen Jahr warf Senator Edward KENNEDY im Unterausschuss Gesundheit des Ausschusses Arbeit und öffentliche Gesundheit des amerikanischen Senats die Frage auf, ob es denn hilfreich sei und uns hoffnungsvoll stimmen könne, dass nicht die Ärzte die Entscheidung über die medikamentöse Behandlung mit Ritalin bei den fünf Millionen hyperaktiven Kindern in den USA fällen, sondern die Lehrerinnen und Lehrer (zit. nach Hartmann 1997).
An der von SCHRAG und DIVOKY aufgezeigten Verquickungen von Forschung und Pharmaindustrie hat sich bis heute nichts geändert. Hinzu kommt, dass diese Industrie selbst massiven Einfluss auf Eltern und Selbsthilfeverbände zu nehmen versucht. So wurde die besonders gut organisierte "Selbsthilfegruppe Aufmerksamkeitsgestörter und Hyperaktiver", CHADD (Children and Adults with ADHD), mit über 30.000 Mitgliedern und Hunderten von Sektionen von Novartis mit 900.00 Dollar in bar unterstützt (Barben und Bau 2000, Anm. 20).
Der zunehmende Boom an Medikalisierung von Auffälligkeiten in den USA geht mit einer Reihe sozialpolitischer Maßnahmen einher. So wurden einkommensschwache Familien mit ADHD ab 1990 pro Monat und ADHD diagnostiziertes Kind mit 450 Dollar unterstützt, ab 1991 wurden weitere 400 Dollar jährliche Erziehungshilfen pro diagnostiziertem Kind an die Schule gezahlt. Entsprechend stieg der Anteil von Kindern mit ADHD an den Behinderten in den USA von 5 % im Jahr 1989 auf 25 % im Jahr 1995. 1997 wurden insgesamt 4,4 Millionen Kinder in den USA mit ADHD diagnostiziert, Ritalin und ähnliche Medikamente jedoch an weitaus mehr (6-9 Millionen) Kinder und Jugendliche verschrieben (Washington 2000). In den letzten Jahren haben sozialpolitische Entwicklungen den USA zu einem enormen Kostendruck geführt. Unter diesen Umständen ist für die gewinnorientiert arbeitenden Gesundheitsdienstleister Ritalin mit monatlichen Kosten von 30 - 60 Dollar der billigste Weg (Steinschulte 2000).
Auch wenn die Ritalin-Kritiker BARBEN und BAU zurecht darauf verweisen, dass bis heute keine wissenschaftlichen Belege für einen organischen Defekt vorliegen, so verkennen sie doch völlig, dass organisch von einer fiktiven Normalität abweichende Befunde dann sofort als Indikatoren für Defekte gesehen werden, wenn das soziale Interesse hieran besteht. So zeigen die unterschiedlichsten Strategien der sozialen Einsparungen im Kontext von Globalisierung und Neoliberalismus im letzten Jahrzehnt sowohl in den Metropolen als auch insbesondere gegenüber den Drittweltländern massive Ökonomisierungsprozesse in den Aufgabenbereichen Bildung, Gesundheit und Soziales bei immer stärkerer Divergenz zwischen arm und reich. Derartige Prozesse sind immer dann besonders erfolgreich durchzuführen, wenn sie eine Biologisierung sozialer Fragen enthalten (vgl. Bauman 1993). Michel FOUCAULT (1993) hat dies in seinem berühmten Aufsatz "Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus" als Biopolitik beschreiben. Biopolitik hat grundsätzlich zwei Aspekte: einen ersten, den FOUCAULT als auf den Körper gerichtete Ergreifung durch die Macht benennt: d.h. der Körper wird getrennt von der Geschichte des Individuums als sozialer Ort der Diagnose und des Eingriffs bestimmt. Dies ist die Anatomie-Politik. Und zweitens existiert die nicht individualisierende, sondern massenkonstituierende Funktion der Macht, insofern nun die Bio-Politik Platz ergreift. D.h. Krankheiten bestimmter Menschengruppen werden jetzt betrachtet als "permanente Faktoren des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Schwindens der Energien, als ökonomische Kostenfaktoren, und zwar ebensosehr auf Grund des Produktionsausfalls wie auf Grund der Pflege, die sie kosten können" (31).
Ohne im Detail zahlreiche andere sozialwissenschaftliche Ansätze zitieren zu können, die ebenfalls diesen Durchsatz ökonomisierender Betrachtungsweisen durch alle gesellschaftlichen Bereiche zum Thema haben, zeigt die FOUCAULTsche Analyse, dass erstens am Individuum eine festmachbare Diagnose vorhanden sein muß, die dieses zweitens aus Sicht der herrschenden ökonomischen Interessen als unproduktiv und kostenintensiv erscheinen lässt, damit bevölkerungspolitische Strategien greifen können. Innerhalb dieser Strategien wird gesellschaftliche Ungleichheit in Biologie umgewandelt. Eben dies nennt FOUCAULT Rassismus.
Da aber dieser Rassismus zwei Ebenen hat: die Deutung des einzelnen Zeichens und die Ökonomisierung des sozialen Umgangs aufgrund dieser Deutung, reicht es nicht, wie BARBEN und BAU dies tun, das Aufzeigen organischer Defekte zu bestreiten. Denn dies führt sofort zu dem Vorwurf des Soziologismus und damit zur Immunisierung der gegnerischen Argumentation, eine gegnerische Argumentation, die auf diesem Wege fast zwangsläufig die mit der Erforschung der Biologie beauftragten Intellektuellen und die herrschenden Bio-Politiker zu Verbündeten macht.
Ergebnis sind trivialisierende Ursache-Wirkungs-Behauptungen zu ADS, wie man sie auf Web-Sites von Elterngruppen ebenso findet wie im ZDF Ratgeber "Volle Kanne, Susanne" (ZDF 2001). Ein Höhepunkt meiner bisherigen Lektüre war zweifelsohne die Behauptung eines Erziehungswissenschaftlers der Universität Bremen: "Im Fall von Störungen kann man mit Ritalin die Stoffe substituieren, die der Körper selbst nicht herstellt. Dies ist vergleichbar mit Diabetes" (Hermann 2001, 22).
Defekte Hirnfunktionen oder andere Hirnfunktionen?
In seinem Buch "Vom Gebrauch der Wissenschaft" schreibt der französische Soziologe Pierre BOURDIEU "Wenn Sie einen Mathematiker ausstechen wollen, muss es mathematisch gemacht werden, durch einen Beweis oder eine Widerlegung. Natürlich gibt es immer auch die Möglichkeit, dass ein römischer Soldat einen Mathematiker köpft, aber das ist ein "Kategorienfehler", wie die Philosophen sagen." (1998, 28) Ebenso ein Kategorienfehler wäre es, einen Biologen und erst recht einen Biologisten mit Soziologie ausstechen zu wollen.
Entwicklungspsychopathologie oder Determinismus?
Innerhalb der Entwicklungspsychopathologie, die sich in den USA und Großbritannien als neues Paradigma in der Kinder- und Jugendpsychiatrie herausbildet (vgl. insb. die seit 1989 erscheinende Zeitschrift "Development and Psychopathology), werden Dysfunktionen nicht als Verhaltensstatus von Individuen betrachtet, sondern als Muster, die auf der Basis von Transaktionen des Organismus mit der Umgebung innerhalb bestimmter Entwicklungspfade zu begreifen sind. Störungen innerhalb des Individuums zu suchen, laufe auf eine "individualistische Metaphysik" hinaus, besondere Defizite der bisherigen Debatte seien im Fehlen einer adäquaten Theorie von Entwicklungskontexten auszumachen (Cicchetti/Aber 1998). Entwicklung ist nicht vorrangig durch den Defekt bestimmt, "single cause - single desease" Annahmen sind nicht zulässig. Dies gilt auch und selbstverständlich für ADHD (Taylor 1999).
Bei allen entwicklungspsychopathologischen Verläufen gelten bestimmte Grundprinzipien:
- Äquifinalität (verschiedene Ursachen führen zum gleichen Ergebnis),
- Multifinalität (eine Ursache führt zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen),
- Epigenese ( die biotische Entwicklung wird durch innere und äußere Transaktionen in der Entwicklung bestimmt) und
- transaktionale Einflüsse des jeweiligen sozialen Kontextes (Fischer u.a. 1997).
Ferner gilt:
- Störungen sind Abweichungen über die Zeit;
- eine Veränderung der Entwicklungsrichtung ist an verschiedenen Punkten möglich;
- Möglichkeit und Umfang der Veränderungen der Entwicklungsrichtung werden durch die bisherige Adaptation beschränkt. (Sroufé 1997)
Diese Überlegungen insgesamt gestatten keine deterministischen Modelle (Richters 1997).
Vergleichbare Überlegungen hatte VYGOTSKIJ (1993) bereits zu Beginn der dreißiger Jahre entwickelt: Ein organischer Defekt bildet mit einer Reihe primärer Folgen einen "Kern der Retardation". Die primären Neubildungen sind am meisten resistent gegenüber Beeinflussungsversuchen bzw. die direkt über dem gestörten System aufbauenden funktionellen Systeme des Gehirns werden am meisten in Mitleidenschaft (Wygotski 1987) gezogen. Primäre Faktoren der Kompensation sind Kooperation und Kollektiv, mittels derer die sekundären Neubildungen, die höheren geistigen Funktionen, auch bei geistiger Behinderung, so gestaltet werden können, dass keine Retardierung resultiert. Dieser Prozess kann, auf Grund der sozialen Isolation durch den Kern der Retardation ebenso wie durch sozial inadäquate Reaktionen, so verändert werden, dass es zu tertiären Neubildungen im Sinne psychopathologischer Prozesse kommt.
Lesen wir auf diesem Hintergrund die Befunde, so ergibt sich bereits an der Oberfläche ein deutlich anderes Bild: Ersichtlich gibt es einen Kern des ADS-Syndroms, der durch organische Prozesse motorischer Unreife gekennzeichnet ist, darüber hinaus gibt es eine sehr große zweite Gruppe von Kindern mit ADS-Symptomatik. Für diese sind familiäre Kontext-Variablen die besten Prädiktoren für ADS im Schulalter. Insbesondere intrusives Verhalten von Eltern und Überstimulation begünstigen dieses Syndrom (Sroufé 1997). Ein früher Vorläufer ist die kindliche Ablenkbarkeit im Alter von drei Jahren. Beides zusammen, Ablenkbarkeit und intrusive Erziehung sagen im Alter von sechs bis acht Jahren immerhin 28 % der Varianz von ADS in der Gesamtgruppe voraus (Carlson u.a. 1995). Intrusives Verhalten bedeutet vor allem, Kindern im Rahmen geteilter Aufmerksamkeit nicht hinreichend Gelegenheit für eigene Initiativen zu lassen, sondern sie in didaktischer Absicht hierin immer wieder zu unterbrechen.
Neuere Forschungen zeigen außerdem, dass sehr häufig Kinder mit Gewalterfahrungen und Postraumatischem-Stress-Syndrom (PTSD), insbesondere auch nach sexuellem Mißbrauch, mit ADHD fehldiagnostiziert werden. Zwischen beiden Syndromen besteht ein hoher Teil an Überlappung und Ko-Morbidität (Weinstein u.a. 2000; vgl. auch Famularo u.a. 1996), obwohl dies in den Diagnostikrichtlinien des DSM-IV noch keine Berücksichtigung findet. Zur Differentialdiagnose von ADHD müßten demnach prinzipiell Nachforschungen zu möglichen Gewalterfahrungen gehören.
Ein Verdacht in Richtung victimisierender Traumata wird durch das gleichzeitige Auftreten von oppositionellem Trotzverhalten nahegelegt (Ford u.a. 1999), zudem könnte ADHD auch die Folge von Depressionen sein (Biederman u.a. 1994).
Höchst unterschiedliche Ursachen können also zum gleichen Effekt führen.
Aber auch die gleiche Ursache kann zu unterschiedlichen Effekten führen, wie dies z.B. geschlechtspezifischen Reaktionsweisen bei ADHD zeigen: Jungen entwickeln eher die hyperaktive Variante, Mädchen eher Tagträume (Phelan 1996, zit. nach Zimpel 2000 a; Newcorn u.a. 2001, Gaub und Carlson 1997)
Nicht nur, dass die biologisierende Sichtweise alles über einen Kamm schert, was höchst unterschiedliche Ursachen hat, sie bewirkt auch schwere Selbstwertverletzungen bei dementsprechend diagnostizierten und auf einen Hirnschaden reduzierten Kindern.
"Anstatt schlecht zu sein, wird das Kind ermutigt, sich selbst als "krank" zu betrachten. Aber was ist wirklich besser für das Kind - dass es sich als schlecht empfindet oder als geisteskrank? Es ist weitaus demoralisierender für ein Kind zu glauben, dass er oder sie einen defekten Verstand oder eine Gehirnerkrankung hat", so BREGGIN (2001).
ADS als Entwicklungspfad
Betrachten wir die neurologischen und neuropsychologischen Befunde bei ADS, so zeigt es sich, dass ADS auf dieser Ebene eine eigene Realität hat, die aber keineswegs als Defekt begriffen werden muß.
Soweit neuropsychologische Befunde zu ADHD vorliegen, ergibt sich ein Muster gestörter Aktivation. Insbesondere Hirnstrukturen, die reich an Dopamin und Dopaminrezeptoren sind, scheinen unteraktiviert zu sein
TANNOCK (1998) nennt hierzu drei theoretische Modelle, die 1. auf das septo-hippocampale Gebiet und seine Verbindungen zum frontalen Kortex verweisen (Quay-Gray-Modell), 2. auf reziproke Verbindungen des orbitofrontalen Kortex mit dem Striatum (Barkley-Modell), 3. auf eine Dysfunktion des Dopaminsystems der Basalganglien, insbesondere des Striatums (van der Meere-Modell). SERGEANT (2000) spricht sich hingegen für ein vereinheitlichtes Modell mit drei Niveaus aus: Auf dem untersten Niveau von encoding, processing, response organisation liegen Veränderungen der psychomotorischen Organisation vor. Auf dem mittleren, energetischen Niveau von arousal, activity und effort (bezogen auf das entsprechende Modell von Pribram, das diese drei Funktionen mit Amygdala, Basalganglien und Hippocampus in Verbindung bringt; vgl. Jantzen 1990, 106 ff.) sind es Defizite im Bereich von acitivation (und in gewissem Ausmass von effort). Und auf dem obersten Niveau treten Veränderung der exekutiven (Frontalhirn-) Funktionen auf.
Insofern kann Narkolepsie, also erhöhte Schläfrigkeit oder Müdigkeit, als Kern des Aufmerksamkeitsdefizits betrachtet werden, zumal neuere bildgebende Verfahren auf einen reduzierten Glukoseumsatz in Aufmerksamkeitsnetzwerken während Daueraufgaben verweisen. Dieser kann durch höchst unterschiedliche Ursachen entstehen. In der Denkweise VYGOTSKIJs wäre diese erhöhte Ermüdung oder Ermüdbarkeit der Kern der Retardation. Die Überaktivierung hingegen wäre bereits ein kompensatorischer Prozeß, um die Müdigkeit zu bewältigen.
Narkolepsie als Kern des Syndroms
Zunächst zur Narkolepsie als Kern des Aufmerksamkeitsdefizits (für seine mündlichen Hinweise hierauf bin ich André ZIMPEL zu Dank verpflichtet). Wodurch könnte der "Kern der Retardation" entstehen ? Zwillingsstudien, Adoptivstudien u.a.m. sprechen für eine "starke genetische Komponente", so TAYLOR (1999). Laut HALLOWELL und RATEY, Autoren eines in deutscher Sprache vorliegenden psychiatrischen Standardwerkes zu ADHD, sprechen von 51 % Wahrscheinlichkeit, dass eineiige, und von 35 % Wahrscheinlichkeit, dass zweieiige Zwillinge diese Störung haben (1998, 413). Da aber Populationsstudien eine erhöhte pränatale Exposition zu Alkohol aufweisen, d.h. zu einer Gefährdung durch das fetale Alkoholsyndrom, und außerdem weitere intrauterine und frühe extrauterine Risikokonstellationen (z.B. Hypoglukämie in den ersten Lebenstagen) schichtspezifisch und familienspezifisch mit ins Spiel kommen, ist nur ein Teil der organischen Belastung genetischer Natur.
Die entstandenen Dimensionen erhöhter Verwundbarkeit, die durchaus das Resultat unterschiedlicher genetischer und epigenetischer Prozesse sein können, führen dann im Rahmen selbst häufig belasteter Familien zur Konstruktion einer Umgebung, welche es ihrerseits verfehlt, sowohl die kognitive Entwicklung als das Lernen der Hemmungskontrolle zu unterstützen (Taylor 1999, 615).
Andererseits können jedoch wenig stimulierende Umgebungen bereits Narkolepsie begünstigen. So bemerkt der berühmte Bewegungsphysiologe BERNSTEIN bereits 1947 in seiner Auseinandersetzung mit PAVLOVs Methode der Herausbildung bedingter Reflexe, dass "bei den Versuchstieren häufig eine Schlafhemmung eintritt, die eine wahre Plage bei den Versuchen mit bedingten Reflexen ist. Im Gegensatz dazu stellt jede Etappe bei der Ausarbeitung der Bewegungsfertigkeiten kein passives ‚Hinnehmen' der Einwirkungen dar, die von außen kommen [...] sondern eine aktive psychomotorische Tätigkeit" (1996, 6).
Nun mag dies nur eine situative Einschränkung sein, die jeder von uns kennt, wenn eine Situation zu langweilig wird. Forschungen zur Auswirkung von früher Isolation auf das Gehirn zeigen jedoch, dass hierdurch die bei ADS ins Spiel kommenden Regionen langfristig geschädigt werden können. In der einschlägigen Literatur werden Auswirkungen auf Basalganglien, Gyrus cinguli, Hippocampus und vermutlich auch Kleinhirn genannt (vgl. Lewis u.a. 1996, Benes 1994).
Und schließlich dürfen längerfristige stabile präsynaptische Wirkungsgradverstellungen eine Rolle spielen, auf die uns EDELMANs Theorie des "Neuronalen Darwinismus" aufmerksam macht (1993). Hierfür spricht auch, dass Ritalin kurzzeitige positive Effekte hat, jedoch langzeitige Verbesserungen unklar sind (Zeiner 1999). Die starke hyperaktive Reaktion auf eine Vergabe von Placebo statt Medikament verweist dabei weniger auf die Wirksamkeit des Medikaments, als auf dessen Integration in die Wirkungsgradverstellung der Prozesse des ZNS, eine Tatsache die auch ansonsten bei Psychopharmaka bekannt ist. Sehr gut ist dies auch an in gewisser Hinsicht vergleichbaren Prozessen der Beeinflussung von Parkinson-Patienten durch L-Dopa zu sehen, wie sie in Oliver SACKS' Buch "Awakenings - Zeit des Erwachens" dokumentiert.
Hyperaktivität als Kompensationsstrategie
Betrachten wir nun die Hyperaktivität, die nach allen Längsschnittuntersuchungen relativ spät, also erst mit beginnendem Schulalter eindeutig diagnostizierbar, ins Spiel kommt. Sie ist demnach keineswegs eine notwendige Bedingung der Kompensation, sondern tritt - im Sinne VYGOTSKIJs als tertiäre Neubildung - erst dann auf, wenn die sekundären Neubildungen nicht hinreichend stabil sind oder destabilisiert werden. Als derartige sekundären Neubildungen können wir die alterspezifischen Operationen und Repräsentationen betrachten. Doch hierzu später mehr.
Allgemeinbiologisch ist Hyperaktivität ein Teil von Streßreaktionen; sie ist deren erste Phase. Sie kann jedoch auch zum Modus dauerhafter Streßbewältigung, und damit Reduzierung des Stress werden, wie dies die empirisch sorgfältig fundierte Theorie des russischen Physiologen KRYZHANOVSKY (1986) zur Pathologie des ZNS herausarbeitet. Unter Bedingungen von Neuigkeitsüberschwemmung beziehungsweise Informationsentzug adaptieren Systeme an diese neue Situation, insofern sie ihre Eigenzeit erhöhen und gleichzeitig Reafferenzen, also Rückmeldungen von ihrer Peripherie unterdrücken. Dies scheint in der Tat ein Effekt langfristig anhaltender ADHD zu sein. Ergebnisse eines psychiatrischen Forschungsprojektes von KING u.a. (1998) ergaben, dass Personen mit ADHD, die diese Störung noch nach einem Jahr aufrechterhielten, im Vergleich zu Personen, bei denen die Störung verschwunden war, geringeren Stress zeigten.
ZIMPEL (2000 a) hat im Kontext seiner Erörterung des ADS hierzu den hoch interessanten Gedanken aus PIAGETs genetischer Erkenntnistheorie herangezogen (1996, 69), dass der Begriff der Bewegung den Begriffen von Raum und Zeit vorrangig ist. Raum wäre eine Koordination der Bewegungen, ohne Geschwindigkeiten in Betracht zu ziehen, Zeit die Koordination von Bewegungen und ihren Geschwindigkeiten. Die Wirkweise pathologischer funktioneller Systeme, von denen KRYZHANOVSKYs Buch handelt, würde auf einen im Sinne PIAGETs rückgekoppelten sensomotorischen Mechanismus - auf Zellebene, auf Organ- und auf Organismusebene - hinweisen: Der Verlust von räumlicher Orientierung würde demnach vorrangig durch zeitliche Beschleunigung bewältigt. Gleichzeitig würde dies aber auch bedeuten, dass die Verstärkung der Hyperaktivität, die mit Beginn der Schulzeit auftritt, auf einen Verlust an räumlicher Orientierung verweist.
Weitere Kompensationstrategien
Aber ersichtlich gibt es noch andere Kompensationstrategien. Eine unlängst erschienene vergleichende Untersuchung von Erwachsenen mit ADHD unter Aufmerksamkeitsbedingungen und Messung des cerebralen Blutflusses mit Positronen-Emmissons-Tomographie (PET) sowie zusätzlicher Befragung ergab, dass diese andere Strategien benutzten, insbesondere visuelle Vorstellungen anstelle von verbal-phonologischen (Schweitzer u.a. 2000).
Dies verweist auf Kompensationsstrategien, wie sie ZIMPEL (2000 b) am Verhältnis von Eigenzeit und Zeichensystemen des Denkens diskutiert. Er zitiert den herausragenden Gedächtniskünstler SCHERESCHEWSKI, den LURIJA (1992) ausführlich beschrieben hat. Viele Menschen hielten SCHERESCHEWSKI für einen langsamen und ungewandten, ein wenig konfusen Menschen, dem abstrakte Ideen Qualen bereiteten. Alles was er dachte, mußte er sich visualisiert vorstellen. Aber die Immunität seines Denkens vor Beschleunigungen schützte ihn auch vor Fehlern. "Sein 'inneres Sehvermögen', das ihn zwang, sich immer konkreter Objekte zu bedienen und Zahlen stets mit Anschauungsbildern zu verbinden, liess keine formalen Lösungen zu" (230). ZIMPEL (2000 b) bemerkt: "Zeichensysteme vermitteln zwischen verschiedenen Eigenzeiten, denn mit ihrer Hilfe können Gedächtnis, Wahrnehmung und Bewegung je nach Bedarf beschleunigt oder gebremst werden".
Bedeutet ADHD, dass während der Schulzeit Prozesse der erhöhten Neuigkeitsbewältigung im psychischen Raum ins Spiel kommen und dass die Schule gleichzeitig hierfür nichts bietet? Und reicht ZIMPELs Hinweis auf die Lernnotwendigkeiten von Kindern mit ADS unter diesem Aspekt bereits aus, dass für sie gewährleistet sein müßte, "dass ihnen genügend Kulturgüter zur Verfügung stehen, an denen sie ihr Bedürfnis nach Witz und Aktion ausleben können?" (2000 a, 177): Einerseits ja, jedoch andererseits nein, weil hier die Bedingungen des mit dem Schulbesuch erreichten neuen Repräsentationsniveaus noch nicht hinreichend reflektiert sind. Meines Erachtens ist die besondere Bedeutung hyperaktiver Kompensationsstrategien in diesen Alter nur teilweise den restriktiven Lernbedingungen von Schulen geschuldet.
Darüber hinaus kommen Besonderheiten eines neuen psychischen Repräsentationsniveaus in Spiel, welche die Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit in besondere Probleme bringen. Wir erinnern uns: Als Kern des Syndroms hatten wir es betrachtet, Müdigkeit und Langeweile leichter ausgesetzt zu sein. Und wir folgen probeweise einmal der Spur, welche die zitierte Untersuchung von SCHWEITZER u.a. (2000) aufgezeigt hatte: Reduzierte verbal-phonologische Rückkoppelung in der Vorstellungswelt. Bevor ich diese Spur jedoch näher verfolge, ist die Frage nach der Berechtigung zu stellen, sie vorrangig zu verfolgen. Gibt es Gründe, entwicklungsniveauspezifische Veränderungen von Aufmerksamkeitsnetzwerken anzunehmen? Ich möchte hierfür einige Argumente anführen.

Aufmerksamkeitsnetzwerke und ADS
Die gegenwärtige neuropsychologische Forschung unterscheidet im wesentlichen drei Aufmerksamkeitsnetzwerke des Gehirns.
Zum einen ist dies ein Netz der visuellen Orientierung, das den hinteren Bereich der Großhirnrinde und subkortikale Prozesse so verbindet, dass visuelle Raumorientierung im Sinne von Lösen, Verschieben und Zentrieren möglich ist (Posner/Raichle 1996, 183). Das visuelle Aufmerksamkeitsnetzwerk umfaßt den hinteren Parietallappen (Loslösen aus einer räumlichen Verortung), den Colliculus superior (Verschieben der Aufmerksamkeit) sowie einen Teil des Thalamus, das Pulvinar (Zentrieren des Aufmerksamkeitsfokus). Es gibt Hinweise auf die Beteiligung der Basalganglien und tiefer liegender Teile der Frontallappen. Ersichtlich haben die Versuchspersonen in der zitierten Untersuchung von SCHWEITZER u.a. (2000) kompensatorisch auf dieses System zurückgegriffen..
Zweitens existiert ein exekutives Netzwerk im Bereich der Basalganglien und des Gyrus cinguli, dies ist eine Region im präfrontalen Kortex von der aus sich das Arbeitsgedächtnis als Ort bewusster Orientierung organisiert (Posner/Raichle 1996, 188). In dieses System mit einbezogen sind auch jene Bereiche der Temporalregion, auf welche die Versuchspersonen von SCHWEITZER u.a. zur Realisierung phonologischer Rückkoppelungen nicht hinreichend zurückgreifen konnten. Da diese Personen jedoch ansonsten keinerlei Probleme im Sprachverständnis haben, muss dies etwas mit ihrer Bewegung im inneren Raum, in der inneren Sprache zu tun haben. Diese ‚Quasibewegungen' in einem ‚Quasiraum' (Lurija 1980, Leont'ev 1982) bilden zudem, wie wir wissen, als linkshemisphärische Funktion die Grundlage der Trennung des Wissensgedächtnisses vom biographischen Gedächtnis (vgl. Markowitsch 1996). Diese Funktion lateralisiert sich im späten Vorschulalter und frühen Schulalter. Für Probleme in diesem Bereich sprechen auch geringere Durchblutungswerte in linksseitigen frontalen Mustern bei Jungen mit ADS im Alter von viereinhalb bis acht Jahren gegenüber einer Kontrollgruppe, und aus der gleichen Untersuchung von eher rechts frontal lateralisierten Mustern bei Mädchen wiederum gegenüber einer Kontrollgruppe (Baving u.a. 1999).
Alle vorliegenden Befunde sprechen vorrangig für Veränderungen im exekutiven Aufmerksamkeitsnetzwerk, obgleich darüber hinaus Einflüsse eines dritten rechtshemisphärischen Aufmerksamkeitsnetzwerkes (vgl. Posner/Raichle 191 ff) nicht völlig auszuschließen sind, so Untersuchungen, die TAYLOR zitiert (1999, 614). Dieses rechtshemisphärische Netzwerk sichert die allgemeine Vigilanz, d.h. erhöhte Wachsamkeit.
Zurück zum exekutiven Netzwerk: Seine Funktion wird erstmals sichtbar, wenn im Alter von ca. acht Monaten ein erstes Repräsentationsniveaus des Selbst erreicht ist, das auf dem Niveau von PIAGETs sensomotorischem Stadium IV als sichere Trennung von eigenem Selbst , bedeutsamen anderen Personen und Weltereignissen anzusetzen ist. Forschungen aus der Arbeitsgruppe von POSNER (Rothbart u.a. 1994) zeigen, dass das exekutive Netzwerk aufs engste mit der Realisierung von Repräsentationsniveaus unterschiedlicher Höhe in Verbindung steht, dass es sehr deutlich vom jeweiligen emotionalen Status beinflußt wird und gleichzeitig über Funktionen der Kontrolle über diesen verfügt. Die Autoren heben hervor, dass die Entwicklung dieses Netzwerks im engeren Sinne erst in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beginnt, "insbesondere in Relation zur Entwicklung der willentlichen Kontrolle des Verhaltens durch das Kind", und verweisen zusätzlich auf Verhaltensänderungen, die um 18 Monate herum eine Weiterentwicklung dieses Systems vermuten lassen..
Um unsere Frage nach entwicklungsniveauspezifisichen Veränderungen von Aufmerksamkeitsnetzwerken jedoch vertieft zu behandeln, müssen wir auf neuropsychologische Überlegungen zu Entwicklungsniveaus der psychischen Prozesse zurückgreifen: Was sind die Besonderheiten des psychischen Feldes, in welche Kinder mit dem Schulalter eintreten?
ADS und die Entwicklung psychischer Felder im Schulalter
Die Weiterentwicklung der Aufmerksamkeit setzt die Weiterentwicklung psychischer Felder voraus, auf die sich die Aufmerksamkeit bezieht. Dies wissen wir spätestens seit den Arbeiten von PIAGET. Mit Beginn des Schulalters ist eine Organisation der Intelligenz erforderlich, die mit Oberbegriffen zu arbeiten vermag und über sichere Erhaltungsfunktionen auch für nicht sichtbare Eigenschaften, wie Volumeninvarianz, Mengeninvarianz u.a.m. verfügt. PIAGET (1984) selbst hat es als Resultat seiner Debatte mit WALLON anerkannt, dass neben die Erforschung der verschiedenen Niveaus der Operationen, sensomotorisch, präoperational, konkret und abstrakt, gleichrangig die Erforschung der Repräsentationsniveaus des Psychischen zu treten habe, ein Aspekt, der ihm selbst jedoch durchgängig eher fremd geblieben ist PIAGET geht davon aus, dass seine Behandlung des Aspekts der Operationen und WALLONs Behandlung des Aspekts der Repräsentation sich systematisch ergänzen. Leider hat diese Bemerkung für die deutsche und angloamerikanische Psychologie keine Folgen gehabt, insofern dort, völlig zu unrecht, WALLON überhaupt keine Rolle spielt.
Was haben wir unter einem solchen Niveau zu verstehen? Betrachten wir es an der Entstehung des ersten Repräsentationsniveaus: Im Alter von ca. acht Monaten unterscheiden Säuglinge zwischen ihren körperlichen Bewegungen und den Gegenständen. Während sie vorher durch Fortsetzung der Bewegung die Existenz des weggenommenen Gegenstandes andauern lassen wollen, suchen sie ihn jetzt. Gleichzeitig entdecken sie die Individualität anderer, von sich getrennter Personen. In kritischen Situationen kann Veränderungsangst auftreten. D.h. aber nichts anderes, als dass sie begonnen haben, eine psychische Repräsentation zu realisieren, innerhalb derer sie sich selbst, bedeutsame andere Personen und Weltereignisse zu trennen vermögen. Dieses erste Repräsentationsniveau schafft die Möglichkeit von geteilter Aufmerksamkeit, von Dialog, Kooperation und Imitation. Es bildet die Basis einer im Verlauf der kindlichen Entwicklung mehrfachen symbolischen und begrifflichen Neu- und Höherorganisation der Repräsentation. Dafür gibt es unterdessen über die klassische Entwicklungspsychologie hinaus, wo insbesondere WALLON, jedoch für die frühe Kindheit auch René SPITZ sich mit derartigen Niveaus oder psychischen Feldern befaßt haben, heute solide neuropsychologische Hinweise.
Eine Forschungsgruppe um THATCHER hat über den Weg der Erfassung von EEG-Kohärenzen zyklische Muster der funktionellen Differenzierung der Großhirnrinde über den gesamten Verlauf der Kindheit hinweg entdeckt. Es existieren bestimmte, sich spiralförmig überlagernde Zyklen linkshemisphärischer und rechtshemisphärischer Differenzierung und Abstraktion, die relativ genau mit zentralen entwicklungspsychologischen Umbrüchen zusammenfallen (Thatcher 1994).
So erfolgt im Alter von eineinhalb bis zweieinhalb Jahren ein (linkshemisphärischer) Übergang dessen (rechtshemisphärische) Konsolidierung mit ca. vier bis fünf Jahren abgeschlossen ist. Die Autoren benennen dies als "Sensomotorisch-Linguistische und Emotionale Differenzierung". Er entspricht der symbolischen Repräsentation, innerhalb derer ca. mit drei Jahren ein symbolisiertes Ich in einem symbolisierten, d.h. sprachlichen Raum entsteht.
Die noch ganz ereignisgebundene, sprachliche Organisation des psychischen Raums von Kindern in diesem Alter beginnt sich in Form der Entwicklung einer inneren Position im späten Vorschulalter und frühen Schulalter nach innen zu verlagern. Es entwickelt sich eine begriffliche Justierung im Wissensgedächtnis, die es ermöglicht, Dinge unabhängig von der Situation ihres Auftretens zu behandeln. Ein Übergang von Ereigniszusammenhängen zu relationalen Zusammenhängen entsteht, hierarchische Denkstrukturen auch oberhalb des Bereichs der konkreten Erfahrungen bauen sich auf und werden nutzbar (vgl. Jantzen 1987, Kap. 5). Oder, wie des VYGOTSKIJ bereits in "Denken und Sprechen" (1972) ausführlich dargestellt hat: Es erschließt sich der Raum der wissenschaftlichen Begriffe oberhalb des Niveaus der Alltagsbegriffe.
Dies bedeutet aber, dass auch die Aufmerksamkeit neu organisiert wird, denn Handlungen und Objekte gehen jetzt eine neue Konfiguration ein, so VYGOTSKIJ in seinen Überlegungen zur Entwicklung von "Wahrnehmung und Aufmerksamkeit" (Vygotsky 1978). Es entsteht ein höheres System der Orientierung in den Relationen zwischen den verschiedenen Begriffen, das durch eine "funktionelle Barriere" vom vorherigen Niveau abgetrennt ist. Die inneren Wahrnehmungsfelder des Kindes, in denen es sich orientiert, sind jetzt zunehmend weniger nur durch die Reihenfolge der Erlebnisse verbunden - dies gilt im Alltag nach wie vor -sondern durch die inneren Relationen von sozial erworbenen Bedeutungen.
Diesen Übergang arbeiten THATCHER und Mitarbeiter als weiteres neues Repräsentationsniveau heraus. Über linkshemisphärische Abstraktion im Alter von fünf bis sechs Jahren, bilaterale Regulation im Alter von achteinhalb Jahren und rechtshemisphärische Systemintegration im Alter von neun Jahren entwickelt sich ein neues Repräsentationsniveau, das sie als "Abstraktion und Systemintegration" kennzeichnen. Es wird in der Pubertät im Alter von 13 bis 15 ½ Jahren von einem weiteren Niveau überlagert, das als Niveau der "multidimensionalen Abstraktion" bezeichnet wird.
Genau dieser Prozess der "Abstraktion und Systemintegration", der im Alter von fünf bis sechs Jahren beginnt und mit neun Jahren abgeschlossen ist, ist bei Kindern mit ADS Syndrom deutlich anders. Aus den hier auftretenden Problemen erklärt sich in neuropsychologischer Hinsicht das Drama der Kinder mit ADS-Syndrom unter den Regelbedingungen der Schule. Für sie ist es schwerer, Bezüge zwischen bildlichen und sprachlichen Vorstellungen im inneren psychischen Raum herzustellen. Dies haben sie im bisherigen, auf der Ebene des biographischen Gedächtnis orientierten Denken mit sehr viel weniger Schwierigkeiten gekonnt. Bei nur in sprachlicher Form realisierten begrifflichen Aufgaben ermüden sie schneller, nicht, weil sie nicht begrifflich denken können, sondern weil es für sie aufgrund ihrer anderen, eher strategischen Aufmerksamkeitsregulation wichtig ist, gerade diesen visuellen Bezug als Grundlage zu erhalten. Dieser kann sich übrigens, wie schon am Beispiel von LURIJAs Gedächtniskünstler andiskutiert, als großer Vorteil erweisen.
Dies hebt insbesondere Thom HARTMANN (1997) hervor, selbst vom ADS-Syndrom betroffen und neben Tätigkeiten als erfolgreicher Unternehmer, als Journalist u.a.m. auch langjähriger Leiter einer Einrichtung für Kinder mit ADS-Syndrom. Er verweist am Beispiel zahlreicher bedeutender Wissenschaftler, Forscher und Politiker, die ersichtlich dieses Syndrom hatten, auf Vorteile dieser anderen Organisation des Bewußtseins. U.a. nennt er Thomas Alva EDISON, Benjamin FRANKLIN, den berühmten Forschungsreisenden Sir Richard BURTON, den Schriftsteller Ernest HEMINGWAY oder den schottischen Schriftsteller und Historiker Thomas CARLYLE. Und um zur Pädagogik zu kommen: Auch Johann Heinrich PESTALOZZI, so eine Fußnote, könnte ADS gehabt haben.
Die Theorie HARTMANNs ist unter den gegenwärtig existierenden Theorien, die ADS nicht als Krankheit, sondern als eine in der Evolution begründete und in menschlichen Populationen nach wie vor vorhandene spezifische Kompetenzstruktur zu begründen versuchen, die bekannteste und attraktivste (vgl. Shellay-Tremblay und Rosén 1996). ADS-Symptome entsprechen, als Kompetenzen gelesen, den Fähigkeiten von Jägern, schnell die Orientierung zu ändern, sich visuell-räumlich komplex zu orientieren, auf hohem Aktivitätsniveau langfristig ein Ziel zu verfolgen. Sie haben innerhalb der Normalverteilung in heutigen Populationen ihr Gegenstück in den Fähigkeiten von Bauern. Normalerweise sind diese Fähigkeiten, die Polaritäten darstellen, gemischt. Jedoch an beiden Enden der Verteilungskurve, so HARTMANN, treten sie eher in reiner Form auf. Folglich existiert als Gegenstück der der ADS (bzw. ADD: Attention-Deficit-Disorder) die TSDD, die Aufgaben-Wechsel-Störung (Task-Switching-Deficit-Disorder).
HARTMANN benennt eine Reihe von eindrucksvollen Beispielen aus Wissenschaft und Kultur, die eher dem ADS-Pol zuzuordnen sind. Ich will nicht verschweigen, dass ich selbst mich höchst deutlich in dieser Beschreibung wiederfinde und auch meine reichlich verkrachte Schulkarriere durchaus unter dieser Dimension gesehen werden kann. Dies macht mir die Annahmen HARTMANNs sympathisch.
Darüber hinaus weist das Buch jedoch in verschiedenen Passagen auf das uns interessierende Problem hin, den Raum abstrakter Begriffe im beginnenden Schulalter verbal umorganisieren zu müssen. Insofern hilft es uns, ein Stück Innensicht dieser Umorganisation zu erschließen.
Kinder mit ADS-Syndrom haben Probleme mit der Verarbeitung rein akustischer Informationen. Ein Mensch mit ADS hört "vielleicht nur die Worte, ohne sich gleichzeitig vor dem geistigen Auge die zugehörigen Bilder vorzustellen, die so lebenswichtig für das Erinnern sind. Er fährt zum Laden und wiederholt auf dem Weg immer wieder: "Milch, Brot, Saft, Benzin" [...] bis ihn irgend jemand ablenkt, und er das Ganze vergißt" (25). Das Grundproblem der nicht hinreichend gelingenden Umsetzung auditiver in visuelle Information könnte durchaus ein gelerntes Problem sein, da dieses Verhalten in jener Zeit erworben wird, wo Menschen sich sprachlich ausdrücken lernen, also im Alter zwischen zwei und fünf Jahren (26).
Vorzüge von Jägern, also von Menschen mit ADS, sind: Sie denken visuell, strategiebezogen und sind in der Lage diese Strategien flexibel abzuändern. Sie können lange Strecken durchstehen, aber nur, wenn sie "auf einer heißen Spur" sind und ein Ziel verfolgen (37). Kinder mit ADS haben zwar eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, aber dafür eine Menge ausgleichender Eigenschaften "z.B. ihre unersättliche Neugier, die ständig wache Beobachtung ihrer Umgebung und sehr breit gefächerte Interessen" (45). Und natürlich können sie trainieren, Wörter in Bilder umzuwandeln. Soweit HARTMANN.
Kinder mit ADS sind also geradezu prädestiniert, so können wir folgern, sich langfristig mit komplexen Aufgaben auseinanderzusetzen, wenn diese ihr Interesse finden. Fügt man ZIMPELs (2000 a), auf PIAGET bezogene Überlegung zur Strukturierung von Raum und Zeit durch Bewegung hinzu, so kompensieren Kinder mit ADS ihre räumliche Schwäche durch Geschwindigkeit und - sofern ihnen dies ermöglicht wird - durch strategische Genauigkeit, die für mehrere räumliche Alternativen offen ist. Auf eine visualisierte Grundlage ihrer Orientierung sind sie hierbei in besonderer Weise angewiesen.
Ich hatte darauf verwiesen, dass es für Kinder mit ADS schwerer ist, Bezüge zwischen bildlichen und sprachlichen Vorstellungen im inneren psychischen Raum herzustellen. Besser gesagt: In nur sprachlich organisierten Räumen ohne visuelle Grundlage ermüden sie schneller. Sie sind eher für sie langweilig, es sei denn, sie sind mit ihrer eigenen flexiblen und visualisierten Strategie verknüpft. Dies wirft beim Übergang in einen nicht mehr erlebnisbezogenen sondern relationsbezogenen Wissensraum enorme Problem auf. Aber natürlich können Kinder auch in diesem Raum ihre "Jägereigenschaften" nutzen, lernen wie man lernt, und hohe Kompetenzen entwickeln. Dies setzt allerdings in der Regel andere Organisationsformen von Schule und Unterricht voraus, Formen, die dem individualisierten Lernen aller anderen Kinder ebenfalls höchst bekömmlich sind (vgl. auch Hartmann 1997, 90). Doch dies ist bereits ein anderes Thema. Hier interessierte mich ADS als soziale Konstruktion.
Schlußbemerkungen: Oder über die Notwendigkeit der Anerkennung der Vielfalt in der Differenz
Soziale Institutionen konstruieren die Wirklichkeit ihrer Mitglieder, insofern diese selbst diese Konstruktionen hervorbringen und ändern. Änderungen zu Lasten einer Gruppe erfolgen immer dann, wenn sich das Feld der Macht in Institutionen verschiebt, wenn also Individuen eher an den Pol der Ohnmacht gedrängt werden. Besonders deutlich ist dies an totalen Institutionen, wie z.B. Anstalten für Behinderte oder psychiatrische Einrichtungen, zu sehen. In der Not des Alltags konstruiert das Personal ständig Urteile und Menschenbilder, die Auffälligkeiten entweder auf Krankheit zurückführen, also biologisieren, oder auf Devianz, also kriminalisieren. Die Basis dieser Krankheits- und Devianzurteile ist der Verlust der historischen Sicht der Insassen, die nur noch als "Fall von", also naturalisiert, individualisiert und enthistorisiert erscheinen. Unter diesen Bedingungen kann persönliche Verantwortung nur allzu leicht verloren gehen und sogenannte "Beziehungsarbeit" nur den Erhalt des Systems realisieren. Die Besonderheit dieser totalen Institutionen ist es, dass das Macht-Ohnmachts-Gefälle sich so verschoben hat, dass die sozialen Kämpfe am Pol der Ohnmacht erliegen und nur noch individualisiert in Form von Auffälligkeiten der Insassen erscheinen.
Das Personal dieser Einrichtungen unterliegt auf höherem Niveau vergleichbaren Prozessen: Gering ausgebildet, hat es auf der "Hinterbühne" die Ökonomie gesellschaftlicher Ausschlußprozesse aufrechtzuerhalten, bei gleichzeitiger Präsentation von "Humanität" auf der Vorderbühne. Unter diesen Bedingungen erscheint der Widerstand der Insassen ebenso als Loyalitätsentzug, wie das Im-Stich-lassen durch die Oberen, so die einschlägigen soziologischen Analysen dieses Bereichs.
Aber die Lehrer an Schulen sind in einer ähnlichen Situation: Sie sollen pädagogische Arbeit leisten und es soll, heute mehr denn je, mit Kindern anständig umgegangen werden, Auf der anderen Seite sind die Lehrer in der öffentlichen Meinung, zumindest so lange es noch Lehrerüberschuss gab, "faule Säcke". Und innerhalb der Schulaufsichtssysteme wird - dies wiederum in einen größeren Rahmen von Kontrolle eingebaut - mehr Qualität gefordert. Es werden Systeme der Qualitätssicherung propagiert, die häufig genug Systeme erhöhter sozialer Kontrolle sind. Und hinzu kommen Elteransprüche, die nicht immer, um mich vorsichtig auszudrücken, nachvollziehbar oder von der Form her akzeptabel sind.
Dieser mehrfache Loyalitätsentzug ist für Lehrerinnen und Lehrer nur allzu sehr spürbar und unreflektiert mit Sicherheit unerträglich. Unter Bedingungen von Globalisierung und Deregulierung sollen sie einerseits unter größerem Druck noch besser arbeiten, wird massiv ihr sozialer Kredit, ihr symbolisches Kapital in der Gesellschaft demontiert. Sie selbst erfahren also Verschiebungen vom Pol der Macht zum Pol der Ohnmacht durch das gesamte System der Deregulierung der Bildungspolitik. Auf der anderen Seite sind sie den Folgen zunehmender Prekarisierung großer Teile der Bevölkerung ausgesetzt, die sich in Form von z.T. unerträglichen Umgangsformen in die Schulen zurück vermittelt (Prekarisierung: ein von Bourdieu verwendeter soziologischer Begriff, um die Gesamtheit prekärer Lebenslagen zu kennzeichnen).
Wird dieser Kontext nicht reflektiert, so finden hier gerade unter diesen Bedingungen biopolitische Strategien einen fruchtbaren Boden. Die Möglichkeit, sog. unangemessenes Verhalten von Kindern als biologischen Defekt zu begreifen, der medizinisch behandelt werden kann, liegt in solchen Situationen nur zu sehr auf der Hand. Im übrigen zeigt die Geschichte des deutschen Kaiserreiches, dass unter den Bedingungen des Hereinströmens des Proletariats in die Städte eine vergleichbare Debatte um "Kinderfehler,, geführt wurde, von denen bis zu 70 % der Kinder befallen sein sollten. Und in der Weimarer Republik war die Debatte um die "psychopathisch minderwertigen" Kinder, die etwa 20 % - 25 % der Schülerschaft ausmachen sollten, die ständige Begleitmusik insbesondere der Hilfsschul- und Volksschulpädagogik (vgl. Voß 1983; Jantzen 1982).
Unter derartigen Bedingungen, so lehren die Geschichte und die heutige Situation, wird sehr leicht persönliche Verantwortung gegenüber einzelnen Kindern substituiert und durch technisch-formale Verantwortung ersetzt. Und genau dies eröffnet den Einstieg in Segregation und Biopolitik.
Ich wäre nun gänzlich falsch verstanden, wenn dies als moralischer Appell verstanden würde, sich noch mehr zusammenzureißen und in unerträglichen Situationen immer noch ein Stück zu funktionieren. Ich meine auch nicht, dass in der jeweiligen Einzelsituation es unsinnig wäre, auch einmal an ein Medikament zu denken, um eine Situation deeskalieren zu können. Ich spreche vielmehr von jener reflexiven Distanz zu der eigenen pädagogischen Situation, die ohne gefühlsmäßige Nähe zu Kindern nicht aufrecht erhalten werden kann und die gleichzeitig Voraussetzung ist, um diese gefühlsmäßige Nähe aufrechterhalten zu können. Ich spreche von jener persönlichen Verantwortung, die ich - und dies beziehe ich hier ausschließlich auf mich - bereit bin, um meiner selbst willen einzugehen, und sei es nur, wie Hannah ARENDT einmal bemerkte, weil ich den Rest meines Lebens mit mir selbst zusammen leben muß. Moralisieren liegt mir völlig fern, aber anstiften möchte ich, soziale Ungerechtigkeit, also Prekarisierung und Ausgrenzung von Kindern, nicht auf Schicksal und Natur zu reduzieren. Anstiften möchte ich, Biopolitik in dem genannten Sinne in keiner Weise zu bedienen und aus Prinzip und unter allen Umständen ihr gegenüber völlig uneinsichtig zu sein. Anstiften möchte ich, ADS prinzipiell als Kompetenz von Kindern in ihrer Vielfalt und Differenz zu betrachten und sich, wo immer es geht, dem herrschenden Normalisierungsterror zu verweigern.

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Zusammenfassung:
Zur Zeit nimmt die Diagnose ADS massiv zu und damit einhergehend das Versprechen, durch Medikamente wirksame Besserung zu erzielen. Dies scheint bei einer Störung mit hoher "genetischer Bedingheit" auf der Hand zu liegen. Doch sind derartige Vorstellungen unvereinbar mit entwicklungspsychopathologischen und neuropsychologischen Theorien und Befunden. Ein Kernproblem von ADS ist erhöhte Ermüdbarkeit, auf die bezogen Kinder verschiedene Kompensationsstrategien (u.a. Hyperaktivität) entwicklen. Mit dem Schulalter kommen entwicklungsniveauspezifische Probleme des Verhältnises von visueller und verbaler Repräsentation ins Spiel. Eine nicht defizitäre Sicht könnteADS als Grundlage spezifischer Kompetenzen betrachten. Als defizitäre soziale Erscheinung ist ADS in jedem Falle das Resultat von sozialen Konstruktionen unterschiedlicher Ebenen, für deren Analyse u.a. Foucaults Theorie der Bio-Macht herangezogen wird.


Anschrift des Verfassers:
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Jantzen
Universität Bremen, FB 12
Institut für Behindertenpädagogik
D-28334 Bremen
E-mail: wjantzen@uni-bremen.de